Jörg Hanken, Guido Kleinhietpaß
Eine zentrale Steuerungsempfehlung im Controlling lautet, unter gegebenen Rahmenbedingungen (z. B. ohne Investitionen), die Handlungsalternative zu wählen, die den höchsten DB I je Einheit des Engpassfaktors aufweist. Diese Regel lässt sich auf unterschiedliche Engpassfaktoren (z. B. Maschinenstunden, Mitarbeiterstunden, Palettenplätze, Regalmeter usw.) anwenden. Zwei im Vertrieb besonders oft vorkommende Engpässe sind die ›vom Kunden benötigte Menge‹ und das ›Einkaufsbudget des Kunden‹. Aus Sicht des Vertriebs heißen die beiden Engpassfaktoren dann (verkaufbare) ›Stückzahl‹ und der (maximale) ›Umsatz‹. Beispielhaft soll in Erinnerung gerufen werden, wie die oben genannte Entscheidungsregel idealtypisch umzusetzen wäre. Es ist den Autoren bewusst, dass dies in vielen Branchen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht oder nicht immer möglich ist. Aber es gibt umgekehrt auch zahlreiche Branchen, die diese Regel sehr erfolgreich in Handlungsempfehlungen und Bonusmodellen umgesetzt haben. Im Folgenden werden nicht die Anwendungsfälle und Grenzen der Regel hinterfragt. Die Regel wird vielmehr beispielhaft angewandt, um das dahinterstehende Prinzip zu verdeutlichen. Darum wird auch von allen Aspekten abgesehen, die die Kundenzufriedenheit betreffen.
Als Beispiel soll der Verkauf von Digitalkameras dienen: Die meisten Anbieter von Unterhaltungselektronik haben sehr viele Kameras im Sortiment. Wir unterstellen, dass der Kunde eine Vorauswahl getroffen hat, die ihm gefällt. Sowohl die Produkteigenschaften als auch die Verkaufspreise sind in einem Rahmen, den der Kunde akzeptiert. So könnte die eine Kamera einen etwas besseren Zoom, die nächste eine höhere Farbtreue und die letzte besonders wenig Gewicht haben. Oft genug lässt sich beobachten, dass ein Kunde den Verkäufer fragt: ›Und welche würden Sie mir jetzt empfehlen?‹ Der Verkäufer hat dann die Wahl, welche Kamera er verkaufen möchte. Er sollte – ohne die spätere Kundenzufriedenheit zu beeinträchtigen – das Modell empfehlen, das ihm die beste Marge bringt. Da der Kunde vermutlich nur eine Kamera kaufen wird (und nicht mehrere), muss der Verkäufer versuchen, mit dieser einen Kamera den maximal möglichen Deckungsbeitrag zu erzielen. Das entspricht der Entscheidungsregel, den Deckungsbeitrag je Engpassfaktor zu maximieren. Der Engpass ist hier die Anzahl der zu verkaufenden Kameras. Da es jeweils nur um eine Kamera geht, kann direkt der absolute Deckungsbeitrag (hier: aus Gesamtunternehmenssicht) betrachtet werden. Der Vertrieb sollte versuchen, Kamera A zu verkaufen, wie die Abbildung 205 veranschaulicht:
Abb. 205: Kamerabeispiel mit Deckungsbeiträgen
Durch die Berechnung von Verrechnungspreisen des Produzenten an die Routinevertriebsgesellschaft (›RVG‹), bei der der oben genannte Verkäufer angestellt ist, darf sich die Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit nicht ändern. Kamera A muss weiterhin für den Verkäufer die erste Wahl bleiben, dann Kamera B und erst zuletzt Kamera C. Der Verrechnungspreis, z. B. als Lieferpreis ab Zentrallager, stellt für den Verkäufer den Wareneinstand dar. Er kennt den kompletten Deckungsbeitrag nicht. Er entscheidet anhand der ihm zur Verfügung stehenden verkürzten Marge (= Verkaufspreis ./. Verrechnungspreis). Diese stellt seinen ›Quasi-Deckungsbeitrag‹ dar. Kosten die Prozesse im Zentrallager beispielsweise 30 EUR je Artikel für Versand, Verpackung, Lieferung, Versicherung etc., ergibt sich für den Vertrieb ein Verrechnungspreis von 180 EUR je Stück für Kameratyp A. Bei unverändertem Verkaufspreis sieht der Vertrieb nicht mehr den gesamten Deckungsbeitrag des Konzerns, sondern nur einen Teil davon. In unserem Beispiel sind das 310 EUR Verkaufspreis – 180 EUR Verrechnungspreis = 130 EUR ›Quasi-DB‹. Die folgende Darstellung gibt eine Übersicht über alle Artikel.
Abb. 206: Kamerabeispiel mit ›Quasi-DB‹
Durch diese Variante der Verrechnungspreisbildung, im obigen Beispiel also Produktkosten + Prozesskostensatz des Zentrallagers =Verrechnungspreis, bleibt die Rangfolge der Produkte erhalten. Der Vertrieb hat die höchste Quasi-Marge bei Kamera A und die niedrigste Marge bei C. Der Vertrieb hat damit die gleiche relative Vorteilhaftigkeit (Sortimentspriorität) wie der Gesamtkonzern in der konsolidierten Sicht (vgl. vorletzte Abbildung "Kamerabeispiel mit Deckungsbeiträgen").Dieser Verrechnungspreis steuert den Verkäufer so, dass er nicht nur seine lokale Marge optimiert, sondern zugleich die Marge des Gesamtunternehmens.
Jedoch ist dies nur eine mögliche Situation, mit der ein Verkäufer konfrontiert sein kann. Es gibt vermutlich so viele unterschiedliche Situationen im Vertrieb, wie es Branchen und Unternehmen gibt. Beispielsweise ist es genauso wahrscheinlich, dass der Kunde über ein begrenztes Budget verfügt, aber durchaus bereit ist, mehrere Stücke eines Artikels zu kaufen. Das wird bei Kameras eher nicht der Fall sein, aber vielleicht bei Batterien oder Akkus. Wenn der Kunde nun den Wunsch hat, die Laufzeit der Ersatzakkus solle viereinhalb...