Leitsatz
Gilt der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für die fakultative Steuerermäßigung nach Art. 5 Satz 1 vierter Gedankenstrich RL 2003/96 mit der Folge, dass der Mitgliedstaat die Steuerermäßigung nach Ablauf der in seinem Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigern darf, wenn im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei der zuständigen Behörde noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist?
Normenkette
Art. 5, Art. 6 RL 2003/96, § 54 EnergieStG, § 100 EnergieStV, § 47, § 169, § 170 Abs. 1, § 171 Abs. 4 AO
Sachverhalt
Die Klägerin, ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes, stellte beim HZA Anträge auf Energiesteuerentlastung für die Monate August bis November 2010 nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG unter Verwendung der vorgeschriebenen amtlichen Vordrucke. Diese Anträge gingen – nach Auffassung des BFH – erst im Mai 2012 und damit verspätet beim HZA ein; währenddessen hatte im Jahr 2011 eine Außenprüfung bei der Klägerin begonnen.
Es ist unstreitig, dass die Klägerin während des gesamten Jahres 2010 abgesehen von der Antragstellung alle Voraussetzungen für die Steuerentlastungen erfüllte.
Das HZA lehnte die Entlastung von der Energiesteuer ab. Nach erfolglosem Einspruch hatte die Klage Erfolg (FG Hamburg, Urteil vom 1.2.2019, 4 K 58/15, Haufe-Index 13030179). Das FG bejahte – anders als das HZA – die fristgemäße Antragstellung. Nur am Rande äußerte es sich zum unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und zwar ausschließlich in Bezug auf § 53 EnergieStG, der eine obligatorische Steuerbefreiung enthält.
Dagegen wendet sich das HZA im Revisionsverfahren.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision zugelassen (Ausgangsaktenzeichen VII B 20/19) und die aus seiner Sicht entscheidungserhebliche Frage, ob der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für fakultative Steuerermäßigungen (im Streitfall § 54 EnergieStG) gilt, dem EuGH vorgelegt.
Hinweis
1. Im Streitfall waren zwar alle Tatbestandsvoraussetzungen der Energiesteuerentlastungen nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG erfüllt, allerdings hatte die Klägerin nach Einschätzung des BFH die in der EnergieStV geregelten Antragsfristen versäumt (das hatte das FG in seinem Urteil anders gesehen).
Festsetzungsverjährung war dagegen (aufgrund einer Außenprüfung, § 171 Abs. 4 AO) noch nicht eingetreten.
2. Der BFH hat sich im Vorlagebeschluss auch mit den Festsetzungsfristen befasst. Diese dienen der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden (BFH, Urteil vom 12.5.2009, VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602) und begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Solche Ausschlussfristen erkennt auch der EuGH an. Die Möglichkeit, einen Antrag ohne jede zeitliche Beschränkung zu stellen, liefe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (EuGH, Urteil vom 21.6.2012, C-294/11, Elsacom, EU:C:2012:382, Rz. 29, BFH/NV 2012, 1404).
3. Im Streitfall musste sich der BFH erstmals intensiv mit der neueren EuGH-Rechtsprechung zu Formfehlern auseinandersetzen.
Danach müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zählen (EuGH, Urteil vom 6.9.2012, C-273/11, Mecsek-Gabona, EU:C:2012:547, BFH/NV 2012, 1919, und EuGH, Urteil vom 2.6.2016, C-418/14ROZ SWIT, EU:C:2016:400, Haufe-Index 19494157). Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (vgl. auch Falkenberg, Energiesteuerbefreiungen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ZfZ 2020, 322 ff. m.w.N.).
Konkret verstößt es nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 7.11.2019, C-68/18, Petrotel-Lukoil, EU:C:2019:933, Haufe-Index 13539205) gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine Steuerbegünstigung nach der RL 2003/96 verweigert wird.
4. Da die bisherigen Entscheidungen des EuGH zu obligatorischen Steuerbefreiungen ergangen waren, gab der Streitfall die Gelegenheit, die Anwendung dieser Rechtsprechung auf fakultative Steuerbefreiungen – wie in § 54 EnergieStG – zu klären.
Der BFH neigt zu der Ansicht, dass auch in diesem Fall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sei und der Anspruch auf Energiesteuerentlastung nicht entfalle, solange die Festsetzungsfrist nicht abgelaufen sei (siehe oben). Hierzu verweist er einerseits auf die Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 30.4.2020, C-661/18, CTT Correios de Portugal, EU:C:2020:335, Rz. 34 ff., m.w.N., Haufe-Index 13802159) zur RL 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (RL 2006/112/E...