Leitsatz
1. Die Regelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes, dass die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats erfolgt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, ist sowohl verfassungsgemäß als auch unionsrechtskonform.
2. Auch für inländische Saisonarbeitnehmer gilt die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‐ C‐3/21, EU:C:2022:737), dass ein im Heimatland (zum Beispiel gleich nach der Geburt des Kindes) gestellter Kindergeldantrag nur dann als ein auch für die inländische Familienkasse relevanter Antrag zu verstehen ist, wenn die antragstellende Person ihr Recht auf Freizügigkeit im Zeitpunkt ihres im Heimatland gestellten Antrags bereits ausgeübt hat.
Normenkette
§ 70 Abs. 1 Satz 2, § 67 EStG, Art. 81 VO Nr. 883/2004
Sachverhalt
Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und Mutter von zwei 2013 und 2015 geborenen, in Rumänien lebenden Kindern, für die sie in Rumänien Familienleistungen bezog. In den Monaten Juni 2017 bis August 2017, Juni 2018 bis August 2018 und April 2019 bis Oktober 2019 war die Klägerin in Deutschland als Saisonarbeitnehmerin beschäftigt. Mit Schreiben vom 15.11.2019 beantragte die Klägerin bei der Familienkasse in Deutschland Kindergeld. In der Folgezeit legte sie ESt-Bescheide für 2017 bis 2019 mit Veranlagungen nach § 1 Abs. 3 EStG vor. Die Familienkasse setzte mit Bescheid vom 23.4.2021 zwar Kindergeld für die Monate Juni 2017 bis August 2017, Juni 2018 bis August 2018 und April 2019 bis Oktober 2019 fest, verfügte unter der Überschrift "Nachzahlung" aber, dass sich hieraus eine Auszahlung erst für die Zeit ab Mai 2019 ergebe. Zur Begründung wurde auf die Sechsmonatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG verwiesen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das FG (FG Nürnberg, Urteil vom 30.3.2022, 3 K 783/21, Haufe-Index 15131296) wies die dagegen gerichtete Klage als unbegründet zurück.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück. Die Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sei zeitlich anwendbar. Wegen des erst am 15.11.2019 eingegangenen Antrags sei die Auszahlung auf die Monate ab Mai 2019 beschränkt. Etwaige bei der Geburt der Kinder in Rumänien gestellte Familienleistungsanträge seien irrelevant, da die Klägerin zu dieser Zeit ihr Freizügigkeitsrecht noch nicht ausgeübt habe und der bloße Bezug von Familienleistungen in Rumänien einen Antrag nicht ersetzen könne.
Hinweis
1. Der Kindergeldanspruch setzt voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG). Daran fehlt es bei Saisonarbeitnehmern aus anderen EU-Mitgliedstaaten, die sich nur für wenige Monate im Jahr im Inland aufhalten, häufig. Für sie kommt jedoch eine Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG in Betracht, wenn sie vom FA für den betreffenden Zeitraum nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurden. Allerdings ist der Anspruch in diesem Fall auf die Monate beschränkt, in dem die Saisonarbeitnehmer inländische Einkünfte erzielt haben. Da der Anspruch deshalb in der Regel nur für einige Monate im Jahr besteht, kann – anders als bei einem im Inland dauerhaft wohnhaften Kindergeldberechtigten – auch keine dauerhafte Kindergeldfestsetzung erfolgen.
2. Stellt der Anspruchsteller seinen Antrag rückwirkend für einen bereits abgelaufenen Anspruchszeitraum, kann die rückwirkende Auszahlung des Kindergelds durch die Sechsmonatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ausgeschlossen sein. Anders als die Vorgängervorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a. F., die bereits die rückwirkende Festsetzung von Kindergeld auf die Sechsmonatsfrist vor Antragseingang beschränkte, betrifft § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nur die Auszahlung, also allein das Erhebungsverfahren. Ist streitig, ob eine rückwirkende Auszahlung zu erfolgen hat, entscheidet die Familienkasse hierüber gemäß § 218 Abs. 2 AO durch Abrechnungsbescheid.
3. Die Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG wurde durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.7.2019 (BGBl I 2019, 1066, BStBl I 2019, 814) eingeführt und ist nach der Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 50 Satz 1 EStGnur auf nach dem 18.7.2019 eingegangene Anträge anwendbar.
4. Wie bereits zur Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a. F. vom BFH (BFH, Urteil vom 11.7.2024, III R 31/23, Haufe-Index 16663687) entschieden, bewertet der BFH in der Besprechungsentscheidung auch die in der Nachfolgeregelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG enthaltene Sechsmonatsfrist als verfassungs- und europarechtskonform.
5. Nach dem Prinzip der Antragsgleichstellung (Art. 68 Abs. 3 Buchst. b Halbs. 2 VO, Art. 81 VO Nr. 883/2004), können zwar auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat gestellte Anträge auf Familienleistung im Inland fristwahrenden Charakter entfalten. Dies gilt allerdings nur, wenn im Zeitpunkt der Antrags...