Leitsatz
1. Die Angemessenheit der Dauer eines Klageverfahrens zur Überprüfung von Ergebnissen der Steuerberaterprüfung ist schon aufgrund der hohen Bedeutung und Grundrechtsrelevanz für den Betroffenen und der besonderen Eilbedürftigkeit einzelfallbezogen zu betrachten. Die für den Regelfall finanzgerichtlicher Klageverfahren geltende Vermutung, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach Klageeingang mit der Bearbeitung beginnt und diese nicht mehr nennenswert unterbricht, ist hier nicht anwendbar.
2. Wenn der Verfahrensbeteiligte aufgrund einer Sachstandsanfrage eines anderen Verfahrensbeteiligten zunächst die Reaktion des Gerichts abwartet, kann die Verzögerungsrüge im Einzelfall auch mehr als gut sechs Monate zurückwirken.
3. Die Erkrankung eines Richters kann nur eine kurzfristige Verzögerung rechtfertigen; grundsätzlich sind die nach den Regelungen über die Geschäftsverteilung zur Vertretung berufenen Richter zur Förderung des Verfahrens verpflichtet (Anschluss an BVerwG-Urteil vom 11.07.2013 ‐ 5 C 27/12 D, BayVBL 2014, 149, Rz 44).
Normenkette
§ 198 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 GVG
Sachverhalt
Der Kläger begehrte eine Entschädigung wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens, das vom Januar 2017 bis zum Januar 2020 beim FG anhängig war (FG München, Urteil vom 22.1.2020, 4 K 240/17, Haufe-Index 14033455, EFG 2020, 1433). Zu klären war die Frage, ob die Entscheidung des zuständigen Finanzministeriums, der Kläger habe die Steuerberaterprüfung erneut nicht bestanden, rechtmäßig war.
Das beklagte Bundesland sah die Verfahrensdauer nicht als unangemessen an. U.a. sei die Berichterstatterin wegen wiederholter und unverschuldeter Erkrankungen an der Sachbearbeitung gehindert gewesen, sodass eine mögliche Verzögerung gerechtfertigt sei.
Entscheidung
Der BFH hat der Entschädigungsklage wegen der aus den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen in vollem Umfang stattgegeben.
Hinweis
1. Grundsätzlich wird die angemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt. Der für die Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer zuständige X. Senat hat allerdings in ständiger Rechtsprechung die Vermutung aufgestellt, dass ein Verfahren nicht verzögert ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und der Verfahrensablauf nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akten unbearbeitet lässt. Grund für diese pauschale Annahme ist die im Vergleich zu anderen Gerichtsbarkeiten eher homogene Fallstruktur in der Finanzgerichtsbarkeit und die relativ einheitliche Bearbeitungsweise der einzelnen Gerichte und Spruchkörper.
2. Diese typisierende Vermutung kann allerdings dann nicht zum Tragen kommen, wenn es sich nicht um ein übliches finanzgerichtliches Verfahren handelt. Insbesondere für prüfungsrechtliche Klageverfahren, wie Berufszulassungsprüfungen, die grundsätzlich für den Rechtsschutzsuchenden eine sehr hohe Bedeutung haben, ist eine genaue Prüfung der Umstände des konkreten Verfahrens notwendig. Aufgrund des Eingriffs in die Berufs(wahl)freiheit des Betroffenen nach Art. 12 Abs. 1 GG sind diese Verfahren zudem besonders eilbedürftig.
3. Die Erkrankung eines Richters kann nach der Rechtsprechung sowohl des BVerwG als auch des BFH nur eine kurzfristige Verfahrensverzögerung – insbesondere eine vorübergehende Terminverschiebung – rechtfertigen. Grundsätzlich sind im Krankheitsfall aber die nach den Regelungen über die Geschäftsverteilung zur Vertretung berufenen Richter zur Förderung des Verfahrens verpflichtet. Auch der/die Senatsvorsitzende muss der Förderungspflicht aus § 79 Abs. 1 Satz 1 FGO nachkommen. Sollte eine Vertretung durch andere Mitglieder des Senats nicht möglich sein, hat er/sie selbst die Sache zeitnah zu bearbeiten.
4. Eine etwaige Überlastung des für das Ausgangsverfahren zuständigen Spruchkörpers hat in entschädigungsrechtlicher Hinsicht keine Bedeutung. Diese gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat zurechnen lassen und die er beseitigen muss. Er schuldet den Rechtsuchenden die Bereitstellung einer ausreichenden personellen und sachlichen Ausstattung der Justiz.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 23.3.2022 – X K 2/20