Leitsatz

§ 152 Abs. 2 der Abgabenordnung verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

 

Normenkette

§ 152 Abs. 2 AO, Art. 6 Abs. 2 EMRK

 

Sachverhalt

Die Entscheidung ist ohne Tatbestand ergangen. Auch die Vorentscheidung (Niedersächsisches FG, Urteil vom 20.7.2022, 4 K 212/20, Haufe-Index XXXXXX) ist nicht veröffentlicht, sodass der Sachverhalt nicht referiert werden kann. Den Entscheidungsgründen lässt sich nur entnehmen, dass gegen den Kläger ein Verspätungszuschlag von 275 EUR festgesetzt worden war, wobei der Mindestbetrag von 25 EUR je Monat zum Ansatz gelangt war.

 

Entscheidung

Der BFH hat die Revision nicht zugelassen, weil die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage im Ergebnis so zu beantworten war, wie sie das FG beantwortet hatte. Andere Gründe für die Zulassung der Revision waren schon nicht ausreichend dargelegt.

 

Hinweis

Streitig war, ob der Verspätungszuschlag nach § 152 Abs. 2 AO eine Sanktion mit Strafcharakter ist mit der Folge, dass Art. 6 Abs. 2 EMRK anwendbar ist. Dann, so die Kläger, müsse die Vorschrift konventionskonform dahin ausgelegt werden, dass sich der Steuerpflichtige für die nicht fristgerechte Abgabe der Steuererklärung entschuldigen könne oder dass auf der Rechtsfolgenseite Ermessen ausgeübt werden müsse.

1. Der X. Senat des BFH hat das in § 22a Abs. 5 Satz 1 EStG vorgesehene Verspätungsgeld am Maßstab des § 6 EMRK gemessen und entschieden, dass die Sanktion nicht dem Bereich des Strafrechts zuzurechnen sei (BFH, Urteil vom 20.2.2019, X R 32/17, BFH/NV 2019, 987, BFH/PR 2019, 214). Eine entsprechende Überprüfung des § 152 Abs. 2 AO fehlte bislang.

2. Der VIII. Senat hat dies nun in Form einer Beschwerdeentscheidung nachgeholt. Die EMRK ist grundsätzlich anwendbar. Es handelt sich um einfaches Recht (völkerrechtlicher Vertrag).

3. Ob eine nationale Sanktionsnorm zum Strafrecht zählt mit der Folge, dass Art. 6 Abs. 2 EMRK anwendbar ist, beurteilt der EGMR autonom anhand von drei Kriterien (sog. Engel-Kriterien): nach der nationalen Einordnung (1), nach der Art der Zuwiderhandlung (2) sowie nach Art und Schwere der Sanktion (3).

Das erste Kriterium hat formellen Charakter. Eine schon nach nationalem Recht dem Strafrecht zuzurechnende Norm, gehört auch nach der Konvention zum Strafrecht. Umgekehrt gilt das nicht.

Ob die Art der Zuwiderhandlung eine strafrechtliche Sanktion erfordert, beurteilt der EGMR anhand von Indizien (z. B. Allgemeinheit der Norm, repressive und generalpräventive Wirkung).

Von der Schwere der Sanktion kann auf die Zugehörigkeit zum Strafrecht geschlossen werden, wenn es um nicht ganz unerhebliche Freiheitsstrafen oder Geldstrafen geht, die in Freiheitsstrafen umgewandelt werden können. Wird nur eine Zahlungspflicht begründet, kommt es auf deren Höhe an.

4. Nach diesen Kriterien und unter Berücksichtigung der bekannten Rechtsprechung des EGMR zu § 6 Abs. 2 EMRK verneint der BFH eine Zuordnung von § 152 Abs. 2 AO zum Strafrecht.

Die Norm gehört nach nationalem Recht eindeutig nicht zum Strafrecht. Auch die Art der Zuwiderhandlung (Nichtabgabe einer Steuererklärung innerhalb der gesetzlichen Frist) ist per se nicht inkriminiert. Hinzukommen muss der Vorsatz oder es müssen unrichtige Angaben gemacht werden. Demgemäß, so der BFH, ist mit der Festsetzung eines Verspätungszuschlags kein sozial-ethisches Unwerturteil verbunden. Der Verspätungszuschlag ist nicht die Antwort auf begangenes Unrecht, sondern er sanktioniert eine objektive verfahrensrechtliche Pflichtverletzung im Hinblick auf die dadurch typischerweise bewirkte Verzögerung im Verwaltungsablauf. Auch die Schwere der Sanktion spricht nicht für eine Zuordnung zum Strafrecht. Der EGMR hat im Jahr 1995 eine Disziplinar-Geldbuße von bis zu 36.000 EUR noch nicht dem Strafrecht zugeordnet. Der Verspätungszuschlag ist auf höchstens 25.000 EUR begrenzt.

5. Die Entscheidung ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ergangen. In diesem Verfahren entscheidet der Senat in der Besetzung mit 3 Richtern. Es kommt eher selten vor, dass der BFH die aufgeworfene Rechtsfrage im Beschwerdeverfahren durchentscheidet und die Revision nicht zulässt. Das geschieht in der Regel nur, wenn die Antwort auf die Frage hinreichend eindeutig ist, sodass mit einer anderen Mehrheit im Falle der Entscheidung in der Besetzung mit 5 Richtern nicht zu rechnen war. Gleichwohl ist die Antwort von allgemeinem Interesse, wie die Veröffentlichung durch den BFH belegt.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 4.6.2024 – VIII B 121/22

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Finance Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge