Leitsatz
1. § 15 UStG 1993 schützt nicht den guten Glauben an die Erfüllung der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug.
2. Liegen die materiellen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug wegen unzutreffender Rechnungsangaben nicht vor, kommt unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227 AO) in Betracht.
3. Macht der Steuerpflichtige im Festsetzungsverfahren geltend, ihm sei der Vorsteuerabzug trotz Nichtvorliegens der materiell-rechtlichen Voraussetzungen zu gewähren, ist die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme grundsätzlich nach § 163 S. 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden.
Normenkette
§ 14, § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG 1993, Art. 17 Abs. 2 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1, Art. 22 Abs. 3 Buchst. b, c der 6. EG-RL, § 163 AO
Sachverhalt
Streitig war der Vorsteuerabzug aus Rechnungen des W über den Verkauf hochwertiger Fahrzeuge Anfang 1998. Der bisherige Geschäftssitz des W hatte seit Ende 1997 nicht mehr bestanden. Das FG (FG Köln, Urteil vom 06.12.2006, 4 K 1356/02, Haufe-Index 1700150, EFG 2007, 631) gab der Klage gegen den Steuerbescheid statt. Weil der Kläger auf die Rechnungsangaben habe vertrauen dürfen, sei ihm der Vorsteuerabzug zu gewähren.
Entscheidung
Der BFH verwies den Kläger auf das Billigkeitsverfahren und betonte, dass das in § 163 AO eingeräumte Ermessen des FA auf null reduziert und deshalb vom Gericht uneingeschränkt überprüfbar ist sowie dass die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gem. § 163 S. 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden sein wird.
Hinweis
1. Eine ordnungsgemäße Rechnung mit gesondertem Umsatzsteuerausweis gehört zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug. Die Angaben im Abrechnungspapier müssen eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung des leistenden Unternehmers ermöglichen. Hierfür ist die Angabe der zutreffenden Anschrift in der Rechnung erforderlich. Die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungsausstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, ist keine zutreffende Anschrift. Dass die richtige Anschrift ermittelt werden kann, genügt nicht.
2.§ 15 UStG sieht nach ständiger Rechtsprechung den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nicht vor. Daran hält der BFH fest. Aus der EuGH-Entscheidung vom 06.07.2006, C-439/04 (Kittel) und C-440/04 (Recolta Recycling), BFH/NV Beilage 2006, 454 ergibt sich nichts anderes, denn diese betrifft nicht den Fall fehlender objektiver Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug; vielmehr ist der Vorsteuerabzug selbst dann zu verweigern, wenn die objektiven Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug zwar vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige von der Einbeziehung in eine Mehrwertsteuerhinterziehung wusste oder hätte wissen müssen. Diese Rechtsprechung erweitert nicht den Vorsteuerabzug, sondern begrenzt das Recht, weil eine "betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht … nicht erlaubt" ist (Rd.Nr. 54).
3. Die Mitgliedstaaten müssen die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes beachten – diese Grundsätze sind für das nationale Recht keine Neuigkeit. Und ganz neu ist auch nicht, dass nicht nur das schutzwürdige Vertrauen in das Verhalten des FA berücksichtigt werden darf, sondern – obwohl das Steuerrechtsverhältnis nur zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen besteht – auch das Verhalten eines Vertragspartners des Steuerpflichtigen, wenn der Steuerpflichtige die einem ordentlichen Kaufmann zuzumutende Sorgfalt beachtet hat (§ 6a Abs. 4 UStG).
4. Das Gemeinschaftsrecht regelt das Verwaltungsverfahren nicht. Es gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Neben ausdrücklichen Regeln zum Vertrauensschutz (vgl. §§ 173 Abs. 2, 176 AO) kann im konkreten Steuerrechtsverhältnis wegen eines vom FA gesetzten Vertrauenstatbestands der Grundsatz von Treu und Glauben rechtsbegrenzend zu berücksichtigen sein. Vertrauensschutz aufgrund eines nicht am konkreten Steuerrechtsverhältnis beteiligten Vertragspartners des Steuerpflichtigen aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls können, wenn dies nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist wie in § 6a Abs. 4 UStG, nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung nach §§ 16, 18 UStG, sondern nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gem. §§ 163, 227 AO berücksichtigt werden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 30.04.2009 – V R 15/07