Es gibt Fälle, in denen es an einer tatsächlichen Bevollmächtigung des Vertreters fehlt, in denen der Vertretene zu keiner Zeit – weder ausdrücklich noch konkludent – eine Vollmacht erteilt hat. Dennoch muss er das Verhalten des Vertreters, der in seinem Namen nach außen auftritt, gegen sich gelten lassen, wenn er "den Rechtsschein einer wirksamen Vertretung zurechenbar veranlasst hat" und der Dritte auf eben diesen Rechtsschein vertraut. Hat der vermeintlich Vertretene dazu beigetragen, dass sich dem Dritten der Schein einer Vollmacht bietet, dann ist der Dritte schutzwürdiger als er selbst. Der "Vertretene" wird dann im Interesse des Dritten so behandelt, als hätte er den "Vertreter" tatsächlich bevollmächtigt; er wird also aus dem Rechtsgeschäft berechtigt und verpflichtet. Zusammengefasst werden solche Fälle mit den Begriffen der Anscheins- und Duldungsvollmacht.
Im Fall der Duldungsvollmacht ist dem "Vertretenen" das Auftreten des Vertreters bekannt, gleichwohl unternimmt er nichts dagegen.
Im Fall der Anscheinsvollmacht ist es ihm nicht bekannt, doch hätte er es bei gebührender Sorgfalt erkennen und verhindern können.
Duldungs- und Anscheinsvollmacht
M ist am Messestand der Bootswerft B-AG beschäftigt. Er ist weder Organ der Gesellschaft, noch hat er Vollmacht zum Abschluss von Verträgen. Dessen ungeachtet führt M, der einen Messeausweis mit dem Logo der B-AG trägt, Verkaufsgespräche mit dem interessierten Kunden K, der ihn in Anbetracht der Situation für einen Vertreter des Ausstellers hält. Am ersten Messetag verkauft M ihm ein Beiboot zum Listenpreis. Am zweiten Messetag gelingt es ihm, K mit einem äußerst großzügigen Rabatt zum Kauf einer Fahrtenyacht zu bewegen. Verträge und Rechnungen fertigt er auf Geschäftsbriefbögen der AG aus. Bei der B-AG will man diesen Vertrag wegen des übermäßigen Preisnachlasses nicht erfüllen und beruft sich auf fehlende Vertretungsmacht des M.
Im Ergebnis muss sich hier die B-AG das Verhalten des M zurechnen lassen. Sein Auftreten als vertretungsberechtigter Mitarbeiter begründete eine Duldungsvollmacht für den Fall, dass seine vorangegangenen Verkäufe bekannt waren, aber nicht beanstandet und unterbunden wurden; waren sie dagegen unerkannt erfolgt, resultiert jedenfalls eine Anscheinsvollmacht daraus, dass die B-AG mit der Beschäftigung des M am Messestand den Rechtsschein einer wirksamen Vertretung zurechenbar veranlasst hat und es der Firmenleitung möglich gewesen wäre, das tatsächliche Verhalten des M zu kontrollieren und seine Verkaufsaktivität im Namen der AG zu verhindern.
Bei Rechtsgeschäften im anonymen Internet kommt es häufiger vor, dass Waren unter Nutzung fremder Account-Daten bestellt werden. So beschäftigte sich der BGH mit der Frage, ob der Inhaber eines eBay-Accounts vertraglich durch Erklärungen gebunden wird, die ein Dritter unter unbefugter Verwendung seines Accounts abgegeben hat. Die BGH-Richter nahmen hier keine Anscheinsvollmacht an. Die unsorgfältige Verwahrung der Kontaktdaten eines eBay-Mitgliedskontos hat noch nicht zur Folge, dass der Kontoinhaber sich die von einem Dritten unter unbefugter Verwendung dieses Kontos abgegebenen Erklärungen zurechnen lassen müsse (BGH, Urteil v. 11.5.2011, VIII ZR 289/09).