Leitsatz
1. Bei einer sogenannten "Videokonferenz" muss für die Beteiligten während der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung – ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im Verhandlungssaal – feststellbar sein, ob die beteiligten Richter in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats im Bild zu sehen ist.
2. Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht wirksam verzichtet werden. Dies ist der Disposition der Beteiligten entzogen.
Normenkette
§ 91a Abs. 1, § 119 Nr. 1 FGO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
Sachverhalt
In einem gegen Steuerbescheide gerichteten Klageverfahren kam es beim FG zu einer mündlichen Verhandlung im Format einer Videokonferenz, bei der nur eine Kamera eingesetzt wurde, die zudem vom Mitberichterstatter manuell gesteuert wurde. Infolgedessen war entweder die Gesamtbesetzung des Senats oder nur derjenige Richter, der aktuell das Wort führte, zu sehen. Nach dem Vortrag des Sachverhalts durch die Berichterstatterin war allein der Vorsitzende Richter des Senats für etwa zwei Drittel der Dauer der mündlichen Verhandlung im Bild zu sehen. Gegen das teilweise klageabweisende Urteil ohne Revisionszulassung (FG Münster, Urteil vom 6.1.2022, 13 K 1195/18 K,G) legte die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde ein und machte insbesondere geltend, dass das FG das Recht auf den gesetzlichen Richter (§ 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt habe.
Entscheidung
Der BFH bejahte den Verstoß gegen § 119 Nr. 1 FGO und gab die Sache gemäß § 116 Abs. 6 FGO an das FG zurück.
Hinweis
1. Die Besprechungsentscheidung beschäftigt sich mit den Schattenseiten der Digitalisierung des finanzgerichtlichen Verfahrens. § 91a FGO ermöglicht es seit 2001, die mündliche Verhandlung in Form einer sog. Videokonferenz abzuhalten. Bei dieser halten sich einzelne oder alle Verfahrensbeteiligte (wie auch die Bevollmächtigten) während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort auf und nehmen dort ihre Verfahrenshandlungen vor, wobei die "Verhandlung" zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen wird.
2. Die Rechtswirklichkeit stellt sich dabei so dar, dass die Beteiligten die vollständige Richterbank über einen häufig nur kleinen Monitor wahrnehmen. Dies hat einzelne FG dazu veranlasst, zur "Herstellung einer Gesprächssituation" mit unterschiedlichen Einstellungen der auf die Richterbank gerichteten Kamera zu arbeiten. Es wird dann z.B. bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage anstelle der vollständigen Richterbank nur der Vorsitzende Richter oder der Berichterstatter im Bild gezeigt. Ohne Einsatz einer zweiten Kamera führt dies dazu, dass die vollständige Richterbank dann für die Beteiligten nicht zu sehen ist.
3. Noch nicht von der Rechtsprechung erörtert wurde, welche Folgen sich aus dieser Form der Kameraführung für die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ergeben. Verstöße hiergegen führen gemäß § 119 Nr. 1 FGO zu einem absoluten Revisionsgrund. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere die Problematik des schlafenden Richters. Schläft ein Richter während der mündlichen Verhandlung, ist das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt, sodass ein Verstoß gegen § 119 Nr. 1 FGO vorliegt. Daran schließt sich die Frage an, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn die nach § 91a FGO zugeschalteten Beteiligten die Richterbank nicht sehen und daher auch nicht feststellen können, ob die nicht im Bild zu sehenden Richter schlafen, sich mit anderen Dingen als der mündlichen Verhandlung beschäftigen oder sogar zeitweise nicht im Gerichtssaal anwesend sind.
4. Der V. Senat des BFH löst diese Problematik dahin gehend, dass die durch § 91a FGO modifizierte Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung nicht zu einer Verschlechterung der Verfahrensrechte der zugeschalteten Beteiligten führen darf. Daher bejaht der Senat für den Fall, dass die vollständige Richterbank für einen erheblichen Zeitraum (im Streitfall mehr als die Hälfte der Gesamtdauer der mündlichen Verhandlung) nach der vom FG gewählten Kameraführung für die zugeschalteten Beteiligten nicht sichtbar ist, den Verstoß gegen § 119 Nr. 1 FGO.
Maßgebliches Begründungselement ist der mit dieser Vorschrift verfolgte Zweck, das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Sachlichkeit der Gerichte zu sichern. Ist den Beteiligten aus Gründen der vom FG gewählten Verfahrensführung für einen erheblichen Zeitraum der mündlichen Verhandlung die Sicht auf die vollständige Richterbank genommen, wird dieses Vertrauen beeinträchtigt.
5. Gesondert zu betrachten ist die Frage, ob der Verstoß gegen § 119 Nr. 1 FGO noch in der Verhandlung gerügt werden mus...