Leitsatz
Erzielt der Steuerpflichtige einen Veräußerungsgewinn i.S.d. § 16 Abs. 1 EStG, der sowohl dem Halbeinkünfteverfahren unterliegende als auch in voller Höhe zu besteuernde Gewinne enthält, wird der Freibetrag gem. § 16 Abs. 4 EStG für Zwecke der Ermittlung der nach § 34 Abs. 1 und 3 EStG tarifermäßigt zu besteuernden Gewinne vorrangig mit dem Veräußerungsgewinn verrechnet, auf den das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden ist.
Normenkette
§ 16 Abs. 1 und 4 EStG, § 34 Abs. 1 bis 3 EStG 2002
Sachverhalt
Der 1942 geborene Kläger erzielte im Streitjahr 2002 aus einer Beteiligung an einer Grundstücksgemeinschaft einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn i.S.d. § 16 EStG. Der Gewinn setzte sich zusammen aus einem dem Halbeinkünfteverfahren unterliegenden Veräußerungsgewinn und einem in vollem Umfang steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn. Für diesen Gewinn beanspruchte der Kläger den Freibetrag gem. § 16 Abs. 4 EStG.
Das FA rechnete den Freibetrag demgegenüber anteilig auf die in dem Veräußerungsgewinn enthaltenen steuerpflichtigen Halbeinkünfte und im Übrigen auf den voll steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn an, sodass der voll zu besteuernde Veräußerungsgewinn nur entsprechend vermindert dem ermäßigten Steuersatz gem. § 34 Abs. 3 EStG unterworfen wurde.
Das FG gab dem Kläger recht (Niedersächsisches FG, Urteil vom 12.11.2008, 3 K 21/06, Haufe-Index 2114337, EFG 2009, 470). Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG sei vorrangig mit dem (steuerpflichtigen) Veräußerungsgewinn zu verrechnen, auf den das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden sei.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Vorentscheidung und wies die Revision des FA als unbegründet zurück.
Hinweis
Sind mehrere Begünstigungstatbestände gleichzeitig zu berücksichtigen, können sich entweder aus der Reihenfolge der Berücksichtigung und/oder der Zuordnung zu bestimmten Gewinnanteilen unterschiedliche steuerliche Folgen ergeben, sodass es von entscheidender Bedeutung ist, wann und worauf eine bestimmte Steuervergünstigung anzuwenden ist.
Im Streitfall war die Frage zu beantworten, wie der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG zu behandeln ist, wenn ein Teil des Veräußerungsgewinns dem Halbeinkünfteverfahren (jetzt Teileinkünfteverfahren) unterliegt und einem Teil des Veräußerungsgewinns voll zu besteuernde Einkünfte zugrunde liegen. Auf diese Einkünfte kann – im Gegensatz zu den Halbeinkünften – auf Antrag gem. § 34 Abs. 3 EStG ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden. Für den Steuerpflichtigen ist es dann günstiger, den gesamten Freibetrag vorrangig von dem Veräußerungsgewinn abzuziehen, der dem Halbeinkünfteverfahren unterliegt, da Bestandteil des Veräußerungsgewinns i.S.d. § 16 Abs. 4 EStG insoweit nur der steuerpflichtige Teil dieses Gewinns ist (siehe auch R 16 [13] S. 10 EStR 2008).
Nach Auffassung der Finanzverwaltung ist der Freibetrag aufzuteilen (BMF, Schreiben vom 20.12.2005, BStBl I 2006, 7, unter II., und H 16 [13] EStH 2009). Aufteilungsmaßstab sind die jeweiligen Anteile der nach § 34 Abs. 3 EStG und nach dem Halbeinkünfteverfahren zu versteuernden Gewinne am Gesamtgewinn.
Anders aber der BFH: Nach dessen Ansicht ist der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG im Weg der Meistbegünstigung vorrangig von dem nicht tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn abzuziehen.
Die Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung – und damit die vorrangige Verrechnung dieses Freibetrags mit nicht tarifbegünstigten Veräußerungsgewinnen – bewirke entgegen der Auffassung des FA nicht, solche Gewinne zusätzlich zu begünstigen. Vielmehr führe der Grundsatz der Meistbegünstigung lediglich dazu, dem Steuerpflichtigen, soweit wie möglich, die ihm gesetzlich zustehende Tarifermäßigung für seine in vollem Umfang der Besteuerung unterliegenden Veräußerungsgewinne zu erhalten. Eine anteilige Verrechnung des Freibetrags mit tarifbegünstigten und mit nicht tarifbegünstigten Einkünften würde ansonsten bedeuten, dass der Steuerpflichtige allein deshalb, weil er auch einen nicht tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn erzielt, die Tarifermäßigung des § 34 EStG nicht in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.07.2010 – X R 61/08