Verbrauch der antragsgebundenen Steuervergünstigung des § 34 Abs. 3 EStG
Hintergrund: Fehlerhafte Berücksichtigung durch das FA in der Vergangenheit
Zu entscheiden war, ob dem X für den Veräußerungsgewinn aus der Beteiligung an einer Gemeinschaftspraxis der ermäßigte Steuersatz nach § 34 Abs. 3 EStG (Vollendung des 55. Lebensjahrs oder Berufsunfähigkeit) zusteht. X schied im Streitjahr 2016 aus der Gemeinschaftspraxis aus. Für den Veräußerungsgewinn beantragte er den ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG. Das FA lehnte dies mit der Begründung ab, X sei die Ermäßigung bereits in 2006 gewährt worden. Das FA berücksichtigte lediglich die Steuerermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG (Fünftelregelung).
In dem (nicht mehr änderbaren) ESt-Bescheid 2006 hatte das FA bei den Einkünften des X einen "Veräußerungsgewinn" von 40.000 EUR erfasst und für diesen die Tarifbegünstigung gemäß § 34 Abs. 3 EStG gewährt, was zu einer Steuerminderung von rund 8.000 EUR führte. Bei dem Betrag von 40.000 EUR handelte es sich allerdings nicht um einen Veräußerungsgewinn des X, sondern um Nachzahlungen (der Kassenärztlichen Vereinigung) an die Gemeinschaftspraxis, die dem X im Feststellungsbescheid 2006 anteilig als laufende tarifbegünstigte Einkünfte i.S.v. § 34 Abs. 2 Nrn. 2 bis 4 EStG (Fünftelregelung) zugerechnet worden waren. Das FA hat die Mitteilung über die anteiligen Einkünfte an der Gemeinschaftspraxis 2006 fehlerhaft ausgewertet und X die Tarifbegünstigung gemäß § 34 Abs. 3 EStG für diese Einkünfte gewährt, obwohl X weder einen entsprechenden Veräußerungsgewinn erzielt noch einen Antrag auf Gewährung der Tarifbegünstigung gestellt hatte.
Das FG gab der Klage gegen die Versagung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG für 2016 statt. Der ermäßigte Steuersatz sei durch die fehlerhafte Gewährung in 2006 nicht verbraucht. Denn X habe (wegen Fehlens eines Veräußerungsgewinns und eines Antrags) die Steuerermäßigung seinerzeit nicht (unberechtigt) i.S. des § 34 Abs. 3 Satz 4 EStG "in Anspruch" genommen.
Entscheidung: Verbrach des ermäßigten Steuersatzes
Der Verbrauch der Steuersatzermäßigung gilt selbst dann, wenn das FA die Vergünstigung ohne Antrag des Steuerpflichtigen gewährt und ein Betrag begünstigt besteuert wird, bei dem es sich tatsächlich nicht um einen Veräußerungsgewinn i.S. des § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG handelt.
Verbrauch einer antragsgebundenen Steuervergünstigung
Die Steuersatzermäßigung kann der Steuerpflichtige nur einmal im Leben in Anspruch nehmen (§ 34 Abs. 3 Satz 4 EStG). Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine antragsgebundene Steuervergünstigung, die dem Steuerpflichtigen nur einmal gewährt werden kann, für die Zukunft auch dann "verbraucht", wenn die Vergünstigung vom FA zu Unrecht gewährt worden ist, insbesondere ein erforderlicher Antrag nicht gestellt wurde. Entscheidend ist allein, dass sich die Vergünstigung auf die frühere Steuerfestsetzung ausgewirkt hat und sie dort nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wenn der Steuerpflichtige sich die Möglichkeit vorbehalten will, die Vergünstigung in einem späteren Jahr in Anspruch zu nehmen, muss er die Steuerfestsetzung anfechten, in der ihm die Vergünstigung zu Unrecht gewährt worden ist.
Ausnahmsweise Berufung auf Treu und Glauben
Etwas anderes gilt nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nur dann, wenn für den Steuerpflichtigen angesichts der geringen Höhe der Vergünstigung und des Fehlens eines Hinweises im Bescheid nicht erkennbar war, dass das FA die Vergünstigung ohne den erforderlichen Antrag gewährt hat (z.B. BFH v. 1.12.2015, X B 111/15, BFH/NV 2016, 199, zu § 34 Abs. 3 EStG). Der BFH differenziert dabei nicht danach, aus welchen Gründen die Vergünstigung zu Unrecht gewährt wurde oder ob die Ermäßigung einen Antrag des Steuerpflichtigen erfordert. Ein Verbrauch tritt daher auch dann ein, wenn überhaupt kein begünstigungsfähiger Veräußerungsgewinn vorgelegen hat und auch kein entsprechender Antrag gestellt wurde. Entscheidend ist allein, dass der Steuerpflichtige den ihn begünstigenden Irrtum des FA erkennt und billigt.
Auslegung nach dem Wortlaut
Die Auffassung des BFH entspricht dem Gesetzeswortlaut. Diesem ist nicht zu entnehmen, dass der Verbrauch nur eintritt, wenn die Tarifermäßigung für einen tatsächlich erzielten Veräußerungsgewinn in Anspruch genommen wird. Aus dem Wortlaut ist auch nicht herzuleiten, dass eine zum Verbrauch führende "Inanspruchnahme" der Vergünstigung nur vorliegt, wenn der Steuerpflichtige einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Die Formulierung "in Anspruch nehmen" verdeutlicht zwar, dass dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht zusteht, zwingt aber nicht zu der Annahme, für eine Inanspruchnahme sei ein aktives Handeln des Steuerpflichtigen erforderlich.
Sinn und Zweck der Begünstigung
Die Steuersatzermäßigung soll nicht mehrfach ("nur einmal im Leben") gewährt werden. Dies wäre jedoch der Fall, wenn eine zu Unrecht gewährte, vom Steuerpflichtigen gebilligte Ermäßigung gemäß § 34 Abs. 3 EStG, die sich endgültig mindernd auf die Steuerfestsetzung ausgewirkt hat, nicht zu deren Verbrauch führen würde.
Klageabweisung
Hiervon ausgehend führte die Revision des FA zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage. Die Prozessbevollmächtigten des X hatten die unzutreffende Behandlung der Einkünfte (40.000 EUR) erkannt und gebilligt. Sie waren nicht verpflichtet, das FA auf den ihm unterlaufenen Fehler hinzuweisen und mussten gegen den unzutreffenden (den X begünstigenden) ESt-Bescheid 2006 auch nicht Einspruch einlegen. Durch einen Einspruch hätten sie allerdings den Verbrauch der Vergünstigung verhindern können.
Hinweis: Risiko des Verzichts auf einen Einspruch
Mit dem Verzicht auf einen Einspruch gegen die Festsetzung für 2006 verwirklichte sich letztlich das dem Steuerpflichtigen obliegende "Risiko", die einmalige Begünstigung des § 34 Abs. 3 EStG aufgrund vorzeitiger Inanspruchnahme nicht optimal nutzen zu können.
Die vom BFH fortgeführte Rechtsprechung wird im Schrifttum weitgehend geteilt. Allerdings wird auch vertreten, die Vergünstigungen nach § 16 Abs. 4, § 34 Abs. 3 EStG würden jedenfalls dann nicht verbraucht, wenn es – wie im Streitfall – an einem Veräußerungsgewinn fehle und sie daher nicht hätten in Anspruch genommen werden können (z.B. Mellinghoff in Kirchhof/Seer, EStG, § 34 Rz 49). Dass sich der BFH auch in der aktuellen Entscheidung nicht ganz sicher war, dürfte der Formulierung zu entnehmen sein, er folge der bisherigen Rechtsprechung "aus Gründen der Rechtsprechungskontinuität".
BFH Urteil vom 28.09.2021 - VIII R 2/19 (veröffentlicht am 07.01.2022)
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