Leitsatz

1. Es verstößt gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird.

2. Bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung steht dagegen das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegen.

3. Einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein oder Rechtsbindungswillen werden die Wirkungen einer Willenserklärung nur zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs beigelegt. Es kommt daher keine Auslegung in Betracht, wenn der Handelnde keinen Erklärungswillen hat und der Empfänger dies auch erkennt.

 

Normenkette

§ 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d, § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 54 Abs. 1 EnergieStG, § 133, § 157 BGB, § 118 Abs. 2 FGO

 

Sachverhalt

Zu entscheiden war über EnergieSt-Entlastungen für vier Monate des Jahres 2010. Die Klägerin reichte über viele Jahre monatliche Steueranmeldungen nach dem EnergieStG beim Hauptzollamt ein. Aus nicht näher geklärten Umständen fehlten jedoch bis zum Ablauf der Antragsfrist (31.12.2011) ausdrückliche Anträge für die genannten vier Monate. Diese Anträge stellte sie erst nach Fristablauf. Zuvor hatte sie allerdings im Rahmen einer Außenprüfung im Jahr 2011 dem Prüfer einen Ordner mit den vollständigen Steueranmeldungen und ‐entlastungsanträgen übergeben.

Das Hauptzollamt lehnte die Entlastungsanträge und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Das FG gab der Klage hingegen statt (FG Hamburg, Urteil vom 1.2.2019, 4 K 58/15, Haufe-Index 13030179).

 

Entscheidung

Auf die Revision des Hauptzollamts hob der BFH die Vorentscheidung des FG insoweit auf, als der Entlastungsanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d des EnergieStG betroffen war, und wies die Klage insoweit ab.

 

Hinweis

1. Dem vorliegenden Urteil ging eine Vorabentscheidung des EuGH voraus, deretwegen das Verfahren ausgesetzt worden war (BFH, Vorlagebeschluss vom 8.6.2021, VII R 44/19, BFH/NV 2021, 1431; Vorabentscheidung des EuGH, Urteil vom 22.12.2022, C‐553/21, Shell Deutschland Oil, BFH/NV ).

a) Nach dem unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (z.B. EuGH, Urteil vom 27.9.2007, C‐146/05, Collée, BFH/NV Beilage 2008, 34, BStBl II 2009, 78, Rz. 26). Nach der Rechtsprechung des EuGH verstößt es gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird (EuGH, Urteil vom 7.11.2019, C‐68/18, Petrotel-Lukoil, Haufe-Index 13539205). Diese Grundsätze gelten auch für fakultative Steuerbegünstigungen (EuGH, Urteil vom 22.12.2022, C‐553/21, Shell Deutschland Oil, Haufe-Index 15521120).

b) Eine sog. fakultative Steuerbegünstigung ist im Streitfall § 54 Abs. 1 Satz 1 EnergieStG. Denn die Energiesteuerrichtlinie (Richtlinie 2003/96/EG vom 27.10.2003) ermöglicht in Art. 5 Satz 1, 4. Gedankenstrich für bestimmte Fälle gestaffelte Steuersätze für eine Differenzierung nach betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung. § 54 Abs. 1 Satz 1 EnergieStG setzt dies um und sieht eine Steuerentlastung auf Antrag für betrieblich verwendete Energieerzeugnisse vor.

c) Der EuGH entschied in der Vorabentscheidung (C-553/21): Macht ein Mitgliedstaat von seiner ihm in Art. 5, 4. Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, dann stehen der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegen, nach der die zuständigen Behörden einen Antrag auf Steuerentlastung, der innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer gestellt wurde, automatisch und ausnahmslos ablehnen müssen, allein weil der Antragsteller die im nationalen Recht für eine solche Antragstellung festgelegte Frist nicht eingehalten hat.

d) Dementsprechend konnte im Streitfall eine Steuerentlastung nach den §§ 53 und 54 EnergieStG, für die die Antragsfrist nicht eingehalten worden war, nicht aus diesem Grund abgelehnt werden. Die Klage hatte insoweit Erfolg.

e) Demgegenüber sprach der BFH der Klägerin einen Entlastungsanspruch nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EnergieStG, für den der Antrag ebenfalls nicht fristgerecht gestellt worden war, nicht zu. Dieser Entlastungsanspruch beruhte nicht auf Unionsrecht, sodass kein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen konnte. Die Fristversäumnis war hier schädlich.

2. Der BFH befasste sich zudem mit der Frage, ob die bloße Übergabe eines Ordners mit Kopien von Steueranmeldungen und Steuerentlastungsanträgen an einen Betriebsprüfer als Antragstellung ausgelegt werden konnte. Nach Anw...

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