Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesellschaftsrecht. Niederlassungsfreiheit. Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen. Zweigniederlassung einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat. Geldbuße bei nicht fristgemäßer Offenlegung. Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte. Geeignetheit, Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und abschreckende Wirkung der Sanktion
Normenkette
11. Richtlinie 89/666/EWG
Beteiligte
Tenor
Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung sind die Art. 49 AEUV und 54 AEUV, die Grundsätze des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 12 der Elften Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, wonach bei Überschreitung der neunmonatigen Frist zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen gegen die Kapitalgesellschaft, die eine im betreffenden Mitgliedstaat ansässige Zweigniederlassung hat, sofort eine Mindestgeldstrafe von 700 Euro verhängt wird, ohne zuvor eine Aufforderung an sie zu richten und ohne ihr die Möglichkeit zu geben, zu der ihr vorgeworfenen Säumnis Stellung zu nehmen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Innsbruck (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2011, in dem Verfahren
Texdata Software GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský, U. Lõhmus (Berichterstatter) und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. November 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Texdata Software GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte N. Arnold und T. Raubal,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer und F. Koppensteiner als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und K.-P. Wojcik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. Januar 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV, Art. 49 AEUV und 54 AEUV, Art. 47 und 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), Art. 6 der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8, im Folgenden: Erste Richtlinie), Art. 60a der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11) in der durch die Richtlinie 2009/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 (ABl. L 164, S. 42) geänderten Fassung (im Folgenden: Vierte Richtlinie) und Art. 38 Abs. 6 der Siebenten Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13. Juni 1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss (ABl. L 193, S. 1, im Folgenden: Siebente Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage der Texdata Software GmbH (im Folgenden: Texdata) gegen die Zwangsstrafen, die vom Landesgericht Innsbruck gegen sie verhängt wurden, um die Verletzung ihrer Pflicht zur Einbringung von Jahresabschlüssen bei diesem Gericht, das mit der Führung des Firmenbuchs betraut ist, zu ahnden.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Rz. 3
Art. 6 EMRK („Recht auf ein faires Verfahren”) bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder gegen eine über sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse...