Prof. Dr. Norbert Herzig, Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach
Rn. 341
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Die europäischen Bilanz-R (vgl. die 4. EG-R, erweitert durch die R 90/605/EWG des Rates vom 08.11.1990 (ABl. EG, L 317/60ff. vom 16.11.1990), ersetzt durch die Bilanz-R), die mit dem BiRiLiG durch spezifische Regelungen über die für alle Kaufleute geltenden GoB in den §§ 238ff. sowie ergänzende Vorschriften für KapG (ebenso wie derweil haftungsbeschränkte PersG i. S. d. § 264a) in den §§ 264ff. bzw. das BilRUG in innerstaatliches Recht umgesetzt wurden, werden von der Rspr. und der h. M. als Auslegungsgrundlage für die durch § 5 Abs. 1 EStG in Bezug genommenen handelsrechtlichen GoB grds. anerkannt (vgl. BFH, Urteil vom 15.09.2004, I R 5/04, BStBl. II 2009, S. 100; BFH, Urteil vom 08.11.2000, I R 6/96, BStBl. II 2001, S. 570; zum Diskussionsstand im Schrifttum H/H/R (2021), § 5 EStG, Rn. 44). Bereits die "Tomberger"-Entscheidung des EuGH (vgl. Urteil vom 27.06.1996, C-234/94, DStR 1996, S. 1093ff.) hat deutlich gemacht, dass Vorschriften des HGB, die auf Grundsätze der 4. EG-R (nunmehr: Bilanz-R) zurückgehen, R-konform auszulegen sind. Die GoB sind Begriffe europäischen Rechts geworden, die Auslegung geltender GoB ist nicht zwingend deckungsgleich mit der Auslegung vor dem BiRiLiG gültiger GoB. Der deutsche Gesetzgeber hat mit der gespaltenen Umsetzung der R-Vorgaben in Vorschriften, die für alle Kaufleute gelten (vgl. §§ 238ff.) und solche, die für KapG bzw. ihnen gleichgestellte PersG i. d. S. § 264a gelten (vgl. §§ 264ff.), das R-seitig auf KapG/PersG i. S. d. § 264a beschränkte Regelungsziel einseitig erweitert und damit zugleich eine Ausdehnung der Reichweite der Bilanz-R als Auslegungsmaßstab nationalen Rechts in Kauf genommen (vgl. z. B. Broer (2001), S. 282f.; Mayer (2005), S. 190). Eine z. T. vertretene rechtsformspezifisch differenzierte Auslegung der §§ 238ff. für KapG/PersG i. S. d. § 264a und Nicht-KapG verbietet sich damit. Der (rechtsformunabhängige) Verweis des § 5 Abs. 1 EStG auf handelsrechtliche GoB sieht die einheitliche Auslegung der GoB im Handels- und Steuerrecht ohne Rechtsformdifferenzierungen vor (vgl. Schön, in: FS Flick (1997), S. 573 (580f.); Herlinghaus, IStR 1997, S. 529 (538); Herzig, WPg 2000, S. 104 (106); Herzig/Dautzenberg, BFuP 1998, S. 23 (27)). Aus steuerlicher Perspektive ist dies bereits aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung geboten. Der maßgeblichkeitsgestützte Transport der R-Wertungen in das Steuerrecht kann gleichwohl nur so weit reichen, wie der Maßgeblichkeitsgrundsatz selbst. Hält das Steuerrecht eigenständige, vom Handelsrecht abweichende steuerliche Regelungen (einschließlich Wahlrechte) bereit, ist die Grenze der steuerlichen R-Relevanz erreicht. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz ist seinerseits eine eigenständige steuerrechtliche Norm, die der Auslegungskompetenz des EuGH entzogen ist (vgl. Kirchhof: EStG (2022), § 5, Rn. 9).
Rn. 342
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Bestehen Zweifel an der R-konformen Auslegung einer über § 5 Abs. 1 EStG maßgeblichen Vorschrift der §§ 238ff., sind die FG bei Entscheidungserheblichkeit zur Vorlage an den EuGH berechtigt, der BFH verpflichtet (vgl. zur Diskussion der Vorlageberechtigung/-pflicht Kahle/Kopp, DStR 2021, S. 1569 (1574)). Die Vorlagepflicht besteht unstreitig, insoweit KapG und ihnen gemäß § 264a gleichgestellte PersG betroffen sind; sie besteht dagegen nach Auffassung des BFH nicht, soweit lediglich Einzel-UN und übrige PersG betroffen sind (vgl. BFH, Urteil vom 28.03.2000, VIII R 77/96, BStBl. 2002, S. 227). Die Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung sekundären Gemeinschaftsrechts erfordert nach Auffassung des EuGH eine Vorlagepflicht auch insoweit (vgl. EuGH, Urteil vom 07.01.2003, C-306/99, BStBl. II 2004, S. 144ff.; im Einzelnen ebenso Groh, DStR 1996, S. 1206 (1208); Herzig/Rieck, IStR 1998, S. 309 (315, 318ff.); Schön, in: FS Flick (1997), S. 573 (581); Herlinghaus, IStR 1997, S. 529 (537); Herlinghaus, FR 2005, S. 1189 (1191)). Der EuGH bejaht seine Vorabentscheidungszuständigkeit auch für bilanzsteuerrechtliche Sachverhalte, in denen – wie im Fall des Maßgeblichkeitsgrundsatzes – die Bilanz-R (nur) mittelbar durch Verweis auf handelsrechtliche Vorschriften in Bezug genommen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 07.01.2003, C-306/99, BStBl. II 2004, S. 144ff., zur Wertaufhellung; EuGH, Urteil vom 23.04.2020, C-640/18, DStRE 2020, S. 577ff., zur Bilanzwahrheit). Eine Vorlagepflicht scheidet aus, soweit eigenständige steuerliche Regelungen bestehen, die den Maßgeblichkeitsgrundsatz durchbrechen.
Rn. 343
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Unterschiede, die (traditionell) zwischen dem Bilanzrecht einzelner europäischer Staaten bestehen, verlieren – soweit sie auf nationale Auslegungsdifferenzen im Anwendungsbereich der Bilanz-R zurückgehen und nicht durch eigenständige steuerrechtliche Wertungen legitimiert sind – abhängig von der Rspr.-Intensität des EuGH im Bilanzrecht an Bedeutung. Angleichungsbewegungen im Handelsrecht steht die im Steuerrecht anhaltende Entwicklung gegenüber, Durchbrech...