Dr. Robert Weber, Julia Sieber
Tz. 23
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Rspr. hat die in § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG enthaltene Verschwiegenheitspflicht als Ausfluss der jedem Organmitglied obliegenden Sorgfalts- und Treuepflicht bezeichnet (vgl. BGH, Urteil vom 05.06.1975, II ZR 156/73, BGHZ 64, S. 325 (327)). In der Literatur wird dagegen zutreffend angeführt, dass der bei der Sorgfaltspflicht anerkannte weite unternehmerische Ermessensspielraum des Vorstands dem strengen Charakter der Verschwiegenheitspflicht widerspricht, und dementsprechend die Verschwiegenheitspflicht überwiegend der Treuepflicht zugeordnet (vgl. AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 279; MünchKomm. AktG (2019), § 93, Rn. 130; BeckOGK-AktG (2021), § 93, Rn. 193; Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 62). Vorstände börsennotierter Gesellschaften haben neben der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht auch das Verbot der unrechtmäßigen Offenlegung von Insiderinformationen nach den Art. 10, 14 lit. c) der MMVO (EU) 596/2014 (ABl. EU, L 173/1ff. vom 12.06.2014) zu beachten. Der Vorstand ist ferner vor dem Hintergrund des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) vom 18.04.2019 (BGBl. I 2019, S. 466ff.) zu einem ordnungsgemäßen Geheimnismanagement verpflichtet (vgl. Fleischer, ZIP 2020, S. 1321 (1326ff.)).
Tz. 24
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Der Umfang der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht ist weit gezogen. Sie erstreckt sich nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG auf vertrauliche Angaben und Geheimnisse bzw. – deren Unterfall – Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse. Unter Geheimnissen sind Tatsachen zu verstehen, die nur einem eng begrenzten Personenkreis bekannt, also nicht offenkundig sind und nach geäußertem oder ableitbarem Willen der Gesellschaft geheim gehalten werden sollen, sofern an der Geheimhaltung ein objektives Geheimhaltungsinteresse besteht. Die Schweigepflicht bezieht sich z. B. auf Umstände wie Herstellungsverfahren, Produktionsvorhaben, Fabrikationsvorhaben, Erfindungsleistungen, Konstruktionen, Kalkulationen, Absatzplanung, Finanzpläne und Kundenstamm. Unter vertraulichen Angaben sind alle Angelegenheiten zu verstehen, die sich für die Gesellschaft nachteilig auswirken können, und zwar auch dann, wenn sie allg. bekannt und daher keine Geheimnisse sind. Beispiele für vertrauliche Angaben sind Interna aus den Leitungsgremien oder Streitigkeiten innerhalb der Gesellschaft. Geheimnisse und vertrauliche Angaben beziehen sich gleichermaßen nicht nur auf Tatsachen, die materielle Schäden der Gesellschaft zur Folge haben, sondern auch auf Umstände, die immaterielle Schäden, wie z. B. Imageverlust, nach sich ziehen können. Darauf, ob eine Tatsache ausdrücklich als geheimhaltungsbedürftig oder vertraulich bezeichnet ist, kommt es nicht an (vgl. MünchKomm. AktG (1973), § 93, Rn. 16; Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 63; AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 283ff.). Der Geheimnisbegriff des GeschGehG ist für § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG überzeugenderweise nicht maßgeblich (vgl. BeckOGK-AktG (2021), § 93 AktG, Rn. 198; Fleischer, ZIP 2020, S. 1321 (1325f.)).
Tz. 25
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Verschwiegenheitspflicht umfasst nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG nur Angelegenheiten, die einem Vorstandsmitglied durch seine Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind. Nicht erforderlich ist dabei, dass das Vorstandsmitglied die Kenntnis durch eigene Tätigkeit im Vorstand erhalten hat. Ausreichend ist eine Kenntniserlangung im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit. Für Informationen, die das Vorstandsmitglied ohne jeden Zusammenhang mit seiner Vorstandstätigkeit erlangt hat, kann sich eine Pflicht zur Verschwiegenheit aus der organschaftlichen Treuepflicht ergeben (vgl. Scholz-GmbHG (2021), § 43, Rn. 233; MünchKomm. AktG (1973), § 93, Rn. 17).
Tz. 26
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Über Inhalt und Umfang der jedem Organmitglied nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG obliegenden Schweigepflicht hat der Gesetzgeber abschließend entschieden. Abweichende Einzelregelungen in Geschäftsordnung oder Satzung sind daher ausgeschlossen. In Zweifelsfällen über Inhalt und Umfang der ihnen obliegenden Verschwiegenheitspflicht können Vorstandsmitglieder zwar eine Entscheidung des Gesamtvorstands herbeiführen. Daraus mag sich auch ein wichtiger Hinweis auf das Interesse des UN an der Geheimhaltung bzw. Vertraulichkeit ergeben. Rechtlich gebunden sind die Gerichte an einen Beschluss des Gesamtvorstands allerdings nicht (vgl. BGH, Urteil vom 05.06.1975, II ZR 156/73, BGHZ 64, S. 325 (327)).