Prof. Dr. Eberhard Kalbfleisch, Prof. Dr. Sascha Mölls
Rn. 10
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Die Nichtigkeit nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG setzt voraus, dass Vorschriften verletzt worden sind. Hieraus ergibt sich, dass nur die Verletzung von gesetzlichen Bestimmungen relevant ist. Satzungsverstöße werden nicht berücksichtigt (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 256, Rn. 7). Die verletzten Vorschriften müssen darüber hinaus ausschließlich oder überwiegend dem Schutz der Gläubiger der Gesellschaft dienen. Die Schutzvorschriften müssen außerdem gerade durch den Inhalt des JA verletzt worden sein (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.1993, II ZR 235/92, BGHZ 124, S. 111 (117f.)). Da die Verletzung von Gläubigerschutzvorschriften infolge von Gliederungs- oder Bewertungsmängeln den Regelungen des § 256 Abs. 4f. AktG unterfällt, beschränkt sich der Anwendungsbereich des Abs. 1 Nr. 1 auf die Fälle, die keine Gliederungs- oder Bewertungsfehler zum Inhalt haben.
Eine Verletzung von Vorschriften durch den Inhalt eines JA i. S. d. § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG ist daher dann gegeben, wenn die Inhalte der Bilanz, der GuV oder des Anhangs selbst gegen Gläubigerschutzvorschriften verstoßen. Das ist der Fall, wenn der JA Sachverhalte abbildet, die es so nicht gegeben hat. Auch das Unterlassen der Darstellung eines berichtspflichtigen Sachverhalts kann eine Verletzung von Vorschriften durch den Inhalt des Berichts nach sich ziehen. Eine Verletzung von Vorschriften, die dem Schutz der Gläubiger dienen, liegt dagegen nicht vor, wenn der JA gesetzwidrige Geschäftsvorgänge ausweist, welche außerhalb des JA stattgefunden haben (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.1993, BGHZ 124, II ZR 235/92, S. 111 (117f.); Bonner-HdR (1986), § 256 AktG, Rn. 7). Dies ist z. B. beim Ausweis eines Geschäftsvorgangs der Fall, der bei richtiger Beurteilung eine verdeckte Gewinnausschüttung darstellt. Grds. kommen als Vorschriften, deren Verletzung die Nichtigkeit nach sich ziehen kann, all diejenigen Regelungen in Betracht, auf die § 334 verweist und die nicht Gliederungs- oder Bewertungsvorschriften sind.
Rn. 11
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Als weitere Voraussetzung des § 256 Abs. 1 Nr. 1 wird eine wesentliche Beeinträchtigung der Darstellung der Vermögens- bzw. Ertragslage gefordert (vgl. Bonner-HdR (1986), § 256 AktG, Rn. 13; Hüffer-AktG (2022), § 256, Rn. 7, m. w. N.). Dies wird teilweise mit dem Rechtsgedanken des § 256 Abs. 4 AktG begründet, aus dem folgt, dass nur wesentliche Beeinträchtigungen die Nichtigkeitsfolge herbeiführen sollen (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 256, Rn. 7). Gegen diese Begründung spricht aber, dass das Erfordernis der wesentlichen Beeinträchtigung nach der Systematik der Norm gerade ein zusätzliches Erfordernis für den Fall ist, dass durch den erstellten JA Gliederungsvorschriften verletzt werden. Das Merkmal einer wesentlichen Beeinträchtigung kann deshalb nicht von vornherein zur weiteren allg. Tatbestandsvoraussetzung für Abs. 1 Nr. 1 erhoben werden. Das zusätzliche Erfordernis, das der Gesetzgeber mit dem Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Beeinträchtigung in § 256 Abs. 4 AktG zur Herbeiführung der Nichtigkeit für erforderlich hält, findet seine Berechtigung nämlich in der Tatsache, dass bloße Aufbaufehler nicht so schwer wiegen können wie eine inhaltliche Fehlerhaftigkeit eines JA.
Aber auch ein i. S. d. § 256 Abs. 4 AktG nicht wesentlicher inhaltlicher Fehler eines JA kann auf einem Verstoß gegen Gläubigerschutzvorschriften beruhen, so dass Abs. 1 Nr. 1 im Prinzip eingreifen würde. Daher erscheint der Rechtsgedanke des Abs. 4 für eine einschränkende Anwendung des Abs. 1 Nr. 1 nicht geeignet, da damit den unterschiedlichen Nichtigkeitsgründen des Abs. 4 und des Abs. 1 Nr. 1 nach hier vertretener Ansicht nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Es bestehen aber rechtssystematische Gründe, die eine solche Einschränkung des Wortlauts des Abs. 1 Nr. 1 rechtfertigen. Ein Inhaltsfehler i. S. d. § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG stellt nämlich unabhängig von seiner Schwere i. d. R. eine Ordnungswidrigkeit nach § 334 wegen Verstoßes gegen eine der genannten Vorschriften dar. Nach dem Opportunitätsprinzip des Ordnungswidrigkeitenrechts können solche Verstöße aber nur dann verfolgt werden, wenn dies im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde liegt. Unwesentliche Verstöße scheiden hier aus und werden i. d. R. nicht verfolgt. Wenn schon die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit dieser Beschränkung unterliegt, muss dies auch für die Anwendung des § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG gelten. Daraus ergibt sich, dass § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG nur dann zur Anwendung kommen und die Nichtigkeit eines JA herbeiführen soll, wenn der Fehler zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Darstellung der Vermögens- und Ertragslage geführt hat.
a) Verstoß gegen GoB
Rn. 12
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Früher wurden Verstöße gegen GoB von der Regelung des § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG erfasst (vgl. Bonner-HdR (1986), § 256 AktG, Rn. 10). Nach der (expliziten) Kodifikation der GoB in den handelsrechtlichen Vorschriften stellt § 252 weitestgehend Bilanzierungsregeln auf. Verstöße gegen die in § 252 genannten ...