Prof. Dr. Norbert Herzig, Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach
Rn. 349
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Über die europäische Flanke des HB-Rechts besteht die Gefahr einer Öffnung des deutschen HB-Bilanzrechts und über den Maßgeblichkeitsgrundsatz auch des Steuerbilanzrechts für IFRS-determinierte Auslegungsgrundsätze. IFRS-konforme Interpretationstendenzen der Bilanz-R sind spätestens mit der seit 2005 für kap.-marktorientierte UN bestehenden Verpflichtung zur Aufstellung eines IFRS-KA zu verzeichnen (vgl. Ernst, BB 2001, S. 823 (825); Göthel, DB 2001, S. 2057ff.; Hahn, DStR 2001, S. 1267 (1268); Heintzen, BB 2001, S. 825ff.; IDW, WPg 2001, S. 664 (665)).
Rn. 350
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Für einen rechtlichen Einfluss der IFRS besteht weder mittelbar über eine IFRS-determinierte R-konforme Auslegung der Bilanz-R respektive handelsrechtlicher GoB noch unmittelbar im Steuerrecht eine Grundlage. IFRS haben keine GoB-Qualität. Auch insoweit die IFRS unionsrechtlich inkorporiert und damit unmittelbar geltendes Recht sind, haben sie weder mittelbar noch unmittelbar rechtliche Relevanz für den steuerlichen BV-Vergleich. Demgemäß lehnt der BFH explizit eine IFRS-basierte Auslegung deutschen Bilanz-(steuer-)rechts ab (vgl. BFH, Urteil vom 25.08.2010, I R 103/09, BStBl. II 2011, S. 215; BFH, Urteil vom 14.04.2011, IV R 46/09, BStBl. II 2011, S. 696). Ein Rückgriff auf die IFRS erfolgt steuerlich de lege lata gleichwohl außerbilanziell i. R.d. sog. Konzern- bzw. Escape-Klausel der Zinsschranke i. S. d. §§ 4h EStG, 8a KStG. Die i. d. S. für den EK-Vergleich maßgeblichen Abschlüsse sind i. d. R. IFRS-Abschlüsse (vgl. § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. c) EStG).
Rn. 351
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Mit der Fortentwicklung des Bilanzrechts im Zuge des BilMoG wurde die Informationsfunktion des handelsrechtlichen JA zwar z. T. durch IFRS-entlehnte Vorschriften gestärkt, um dem expliziten Ziel des BilMoG, den UN eine im Verhältnis zu den IFRS "gleichwertige" Alternative zu bieten (vgl. BT-Drs. 16/10067, S. 32f.) Den handelsrechtlichen GoB liegt gleichwohl auch nach BilMoG ein von den IFRS abweichendes Zielsystem zugrunde. Bereits die trotz Bedeutungsgewinns der Informationsfunktion fortbestehende Gläubigerschutz- und Ausschüttungsbemessungsfunktion des handelsrechtlichen JA verbietet eine IFRS-geprägte Auslegung der GoB (vgl. z. B. Hennrichs, in: FS Schmidt (2009), S. 581 (595); HdJ, Abt. I/1 (2016), Rn. 17; HdJ, Abt. VII/1 (2022), Rn. 332). Die mit dem BilMoG vollzogene maßvolle Annäherung der handelsrechtlichen RL-Vorschriften an die IFRS mündet nach explizit geäußerter Auffassung des Gesetzgebers "nicht in der Aufgabe der bisherigen handelsrechtlichen Bilanzierungsprinzipien und -grundsätze" (BT-Drs. 16/10067, S. 34). Die IFRS sind i. R.d. hermeneutischen Rechtsfindung allenfalls Argumentationsbeispiel (vgl. auch HdJ, Abt. VII/1 (2022), Rn. 332; Blümich (2021), § 5 EStG, Rn. 208; HB-BilStR (2021), Rn. 3047), wie z. B. in der Frage der Umsatzrealisation bei Mehrkomponentengeschäften (vgl. Hennrichs, in: FS BFH (2018), S. 1411 (1426f.)).
Rn. 352
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Auch mit der Bilanz-R wurde eine Angleichung der R-Ziele an die Informationsfunktion der IFRS nicht vollzogen und im Einzelnen weder ex- noch implizit eine Öffnung für eine IFRS-konforme R-Interpretation bewirkt. Insoweit herausgehoben wird vielmehr die unveränderte Zweckpluralität von Informations- und Ausschüttungsbemessungs-/Kap.-Erhaltungsfunktion (sog. Adressatenpluralität des JA gemäß Erwägungsgrund (4) der Bilanz-R; vgl. auch Jessen/Haaker, DB 2013, S. 1617; H/H/R (2021), § 5 EStG, Rn. 46).
Rn. 353
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Trotz fehlender rechtlicher Grundlage für eine IFRS-determinierte Auslegung sind faktische Einflüsse der Internationalisierung auf den handels- und steuerrechtlichen JA bei neuen Bilanzierungsfragen nicht auszuschließen (vgl. Kuhn, in: FS Beisse (1997), S. 299 (310); Herzig/Dautzenberg, BFuP 1998, S. 32ff.; HdJ, Abt. VII/1 (2022), Rn. 333; HB-BilStR (2021), Rn. 3047). Faktische Einflüsse dürften insbesondere aus rechtsvergleichenden Überlegungen i. R.d. Lösung neuer oder neu aufgerollter Bilanzierungsprobleme sowie Fortentwicklung der GoB resultieren, etwa bei der bilanziellen Abbildung von Bewertungseinheiten (vgl. Glaser/Kahle, Ubg 2015, S. 113 (114ff.)) oder der Abgrenzung "Erwerb/eigene Herstellung" von immateriellen Werten bei Auftragsproduktionen (vgl. Prinz/Otto, DStR 2017, S. 275ff.). Abweichende Bilanzierungslösungen, die zu gravierenden Divergenzen zwischen steuerlichem und nach IFRS-Grundsätzen ermitteltem Ergebnis führen, bergen die Gefahr, tiefgreifende Akzeptanzprobleme in der Öffentlichkeit und je nach Abweichungsrichtung bei den betroffenen UN/Branchen oder der Finanzverwaltung hervorzurufen und auch vor diesem Hintergrund die Suche nach alternativen ("überlegeneren") Abbildungs-/Interpretationsmöglichkeiten zu forcieren. Nach IFRS aufgestellte EA sind ob ihres Informationsgehalts für die Finanzverwaltung als zusätzliche Informationsquelle für die Ermittlung von Besteuerungssachverhalten von nicht zu u...