Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
Rn. 94
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Ein völlig anderes Gewicht erhalten die Interessen der Gläubiger nach Ansicht von BGH und BVerfG, wenn ein UN sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. In ständiger Rspr. hat der BGH betont, dass ein JA in einer tatsächlichen oder einer möglichen Krise des UN, also bei Überschuldung (vgl. § 19 InsO) oder drohender (vgl. § 18 InsO) bzw. bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit (vgl. § 17 InsO), unverzüglich aufzustellen sei (vgl. Blumers (1983), S. 112f., m. w. N.). In der Krise ist danach ohne schuldhaftes Zögern, also so schnell es aufgrund der technischen Voraussetzungen möglich ist, ein JA zu erstellen. Diese Frist entspricht nach Ansicht des BGH dem schon o. g. Zeitraum von zwei bis drei Monaten (vgl. HdR-E, HGB § 243, Rn. 88; dem folgend Beck Bil-Komm. (2020), § 243 HGB, Rn. 93).
Rn. 95
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die Pflicht zur unverzüglichen Aufstellung des JA in der Krise ergibt sich aus den vorhandenen strafrechtlichen Bestimmungen (vgl. § 283 StGB), die eine verspätete JA-Erstellung im Zusammenhang mit der UN-Krise als Bankrotthandlung unter Strafe stellen (vgl. zum Beginn der Aufstellungsfrist für den Liquidator BayOLG, Urteil vom 31.01.1990, BReg. 3 St 166/89, BB 1990, S. 600f.). Ein Bankrott liegt vor, wenn das UN die Zahlungen eingestellt hat oder das Insolvenzverfahren eröffnet bzw. mangels Masse abgewiesen worden ist (vgl. §§ 283 Abs. 6, 283b Abs. 3 StGB).
Rn. 96
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Ein UN kann nur dann mit einiger Sicherheit feststellen, ob es überschuldet ist oder der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit droht (vgl. hierzu Steffan/Knaupp (2017), Rn. C 6ff.), wenn es unverzüglich mit den Abschlussarbeiten beginnt und einen Liquidationsstatus sowie einen Finanzplan aufstellt (vgl. IDW S 11 (2021), Rn. 23ff.; Steffan/Knaupp (2017), Rn. C 32ff.), aus denen der Grad der Schuldendeckung bzw. Zahlungsfähigkeit ersichtlich wird (vgl. Kupsch, BB 1984, S. 159ff.)). Deshalb müssen die Abschlussarbeiten ohne schuldhaftes Zögern durchgeführt werden, sobald Anzeichen für eine UN-Krise gegeben sind (vgl. Mühlberger, DStR 1978, S. 211 (214)). Sonst besteht für den Kaufmann die Gefahr, sich nach den §§ 283 Abs. 1 Nr. 7 lit. b), 283 Abs. 5 StGB wegen einer nicht unverzüglichen Aufstellung des JA in der Krise strafbar zu machen. Nach § 283 Abs. 1 Nr. 7 lit. b) StGB wird bestraft, wer in Kenntnis einer Krisensituation vorsätzlich verspätet bilanziert, nach § 283 Abs. 5 StGB, wer in fahrlässig nicht erkannter Krise fahrlässig verspätet bilanziert (vgl. Blumers (1983), S. 135). Anzeichen für eine Krise können Zahlungsstockungen bei schwacher EK-Basis, Forderungsausfall von großen Beträgen, die Nichtvergabe bzw. Rücknahme von Krediten oder Auftragsmangel sein. Eine Krise lässt sich vom Bilanzaufsteller u. U. aber auch aus dem JA des VJ erkennen, sofern man die Kennzahlenanalysen zur Früherkennung von UN-Krisen auf den VJ-Abschluss anwendet (vgl. Baetge/Baetge/Kruse, DStR 1999, S. 1628ff.; Baetge/Huss/Niehaus, WPg 1986, S. 605ff.; Baetge/Thun (2000); Baetge/Dossmann/Kruse (2000); Baetge/Baetge/Kruse (2001); Baetge, WPg 1994, S. 1ff.; Baetge/Stellbrink, Controlling 2005, S. 213ff.).
Rn. 97
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Bei nach den gleichen Methoden feststellbarer voraussichtlicher UN-Fortführung gelten, wie bereits dargestellt (vgl. HdR-E, HGB § 243, Rn. 90ff.), die in den Spezialgesetzen für bestimmte UN vorgeschriebenen Fristen und für alle übrigen UN die unter normalen Bedingungen einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechende Frist, die zuvor oben mit einem Zeitraum von etwa sechs bis neun Monaten konkretisiert wurde. Unter bestimmten Voraussetzungen wird aber auch der unter Strafe gestellt, der den JA nicht innerhalb dieser unter "normalen Verhältnissen" handelsrechtlich als ordnungsmäßig anzusehenden Fristen aufstellt.
Rn. 98
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die §§ 283 Abs. 2, 4 und 5 sowie 283b StGB sehen Strafen für denjenigen vor, der durch verspätete Aufstellung des JA die Krise wenigstens leichtfertig verursacht oder dadurch die Krise oder den Bankrott mitverursacht, auch ohne dass ihm Leichtfertigkeit vorgeworfen werden könnte (vgl. Schönke/Schröder (2019), § 283 StGB, Rn. 56ff., und § 283b StGB, Rn. 4). Eine Krise oder ein Bankrott kann z. B. dadurch verursacht oder mitverursacht werden, dass vorhandene oder potenzielle Kap.-Geber aufgrund einer verspäteten JA-Aufstellung nicht oder nicht mehr bereit sind, ihr Kap. dem UN zur Verfügung zu stellen. Da die Kap.-Geber allerdings in diesem Fall erst aufgrund der nicht fristgerechten Aufstellung eine Krise vermuten, treten die Bedenken nicht schon auf, wenn der JA nicht unverzüglich erstellt wird, sondern frühestens, wenn die bei einem normalen Geschäftsgang übliche Aufstellungsfrist von etwa sechs bis neun Monaten überschritten wird (vgl. Blumers (1983), S. 131f.).
Darüber hinaus wird ein Kaufmann nach § 283 Abs. 4 StGB bestraft, wenn er in einer fahrlässig nicht erkannten Krise vorsätzlich verspätet bilanziert. Auch hier kann ...