Prof. Dr. Norbert Herzig, Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach
Rn. 204
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Der Wesentlichkeitsgrundsatz als nicht-kodifizierter GoB (vgl. z. B. Scheffler, in: FS Baetge (2007), S. 505 (519)) gestattet es grds., unbedeutende Einflussgrößen für Bilanzansatz, Bewertung und Ausweis zu vernachlässigen, zu verkürzen oder zu verdichten, soweit zeit- und kostenintensive Arbeiten unverhältnismäßig wären, da die resultierenden Ergebnisse den JA nur gering(st)fügig beeinflussen (vgl. z. B. Bilanz-HB (2015), Rn. D 395; Marx, FR 2011, S. 267 (268)). Die Bildung von RAP dient dazu, Einnahmen/Ausgaben periodengerecht dem Jahr zuzuweisen, dem sie wirtschaftlich zuzuordnen sind (vgl. BFH, Urteil vom 15.02.2017, VI R 96/13, BStBl. II 2017, S. 884). Der Wesentlichkeitsgrundsatz erlaubt es, in der HB auf die Abgrenzung unwesentlicher Beträge zu verzichten (vgl. z. B. Beck Bil-Komm. (2022), § 250 HGB, Rn. 28; WP-HB (2021), Rn. F 442; a. A. H/H/R (2021), § 4 EStG, Rn. 2181). Nach Auffassung des BFH fehle es im Steuerrecht an einer Rechtsgrundlage für einen wahlweisen Verzicht auf die Bildung von RAP in Fällen geringer Bedeutung (vgl. BFH, Urteil vom 16.03.2021, X R 34/19, BStBl. II 2021, S. 844). Weder sehe der Wortlaut des § 5 Abs. 5 EStG ein Abgrenzungswahlrecht vor, noch lasse sich dem Grundsatz der Wesentlichkeit oder dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Einschränkung der Pflicht zur Bildung auf wesentliche Fälle entnehmen. Steuerlich bestehe daher ein betragsunabhängiger Abgrenzungszwang auch für Klein(st)beträge (vgl. auch Nöcker, juris-PR-SteuerR 6/2022, Anmerkung (2)). Handelsrechtlich ist dem nicht zu folgen, so dass sich Abweichungen ergeben können; da für steuerliche Zwecke nach Wertung des BFH aber ohnehin zwingend abzugrenzen ist, werden die berechtigten Erleichterungen durch den Wesentlichkeitsgrundsatz im Ergebnis außer Kraft gesetzt.
Der Wesentlichkeitsgrundsatz trägt Verhältnismäßigkeits- und Informationsnutzenerwägungen Rechnung, kollidiert in Ansatzfragen aber insbesondere mit dem Vollständigkeitsgebot, steuerlich darüber hinaus potenziell mit der zutreffenden Leistungsfähigkeitsmessung. Wesentlichkeitsfragen stellen sich auf Ansatz-, Bewertungs- und Ausweisebene (vgl. Wendt, in: FS Herzig (2010), S. 517 (518ff.)). Im Handelsrecht wirkt der Wesentlichkeitsgrundsatz auf allen Ebenen, wenngleich in abgestufter Intensität: ganz erheblich von Wesentlichkeitsüberlegungen beeinflusst sind Ausweisfragen (bspw. im Kontext von Gliederungserleichterungen, indes auch beim Detailgrad erforderlicher Anhangangaben); nennenswert von Wesentlichkeitsfragen mitbestimmt sind Bewertungsfragen (etwa bei der Bewertungsvereinfachung im Vorratsvermögen oder auch Pauschalwertberichtigungen), nur ausnahmsweise durch Wesentlichkeitsfragen determiniert sind mit dem Vollständigkeitsgrundsatz kollidierende Ansatzfragen (so mitunter bei RAP bei geringfügigen Beträgen).
Die steuerliche Reichweite des Wesentlichkeitsgrundsatzes bleibt aktuell praktisch auf die Bewertungsebene beschränkt. Wesentlichkeitsbestimmte Ausweiserleichterungen in Bilanz und GuV werden durch die hochdifferenzierten Taxonomievorgaben für die E-Bilanz (vgl. § 5b EStG) steuerlich außer Kraft gesetzt (vgl. zur Kritik HB-BilStR (2021), Rn. 1303ff.). Für die Ansatzebene fordert die Rspr. eine rechtliche Grundlage für wesentlichkeitsgestützte Abweichungen vom Vollständigkeitsgrundsatz, die im Maßgeblichkeitsgrundsatz selbst (vgl. § 5 Abs. 1 EStG) nicht gesehen wird. Sowohl für Passivierungs- (vgl. etwa BFH, Urteil vom 19.07.2011, X R 26/10, BStBl. II 2012, S. 856, zur Passivierungspflicht von Verpflichtungen zur Nachbetreuung von Versicherungsverträgen) als auch Aktivierungsfragen (vgl. etwa BFH, Urteil vom 16.03.2021, X R 34/19, BStBl. II 2021, S. 844, zur Aktivierungspflicht von RAP in Fällen geringer Bedeutung; BFH, Urteil vom 28.09.1967, IV R 284/66, BStBl. III 1967, S. 761, zur Aktivierung geringfügiger Forderungen) wird ein durch Wesentlichkeitsaspekte eröffneter Ansatzspielraum verneint. Auf Bewertungsebene dagegen wird Wesentlichkeitsaspekten grds. auch steuerlich Rechnung getragen, sowohl auf gesetzlicher Ebene (etwa beim Lifo-Verfahren; vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2a EStG; ferner BFH, Urteil vom 20.06.2000, VIII R 32/98: durch den Wesentlichkeitsgrundsatz getragener Wertungskompromiss – Sofort-AfA von GWG i. S. d. § 6 Abs. 2 EStG; Sammelpostenbildung einschließlich ND-unabhängiger ratierlicher Auflösung i. S. d. § 6 Abs. 2a EStG) als auch durch die Rspr. (vgl. stellvertretend BFH, Urteil vom 15.11.1960, I 189/60 U, BStBl. III 1961, S. 48, zur Rückstellungshöhe bei ungewissen Verbindlichkeiten; BFH, Urteil vom 21.09.2011, I R 89/10, BStBl. II 2014, S. 612, zur Rechtfertigung der Bagatellgrenze von 5 % bei voraussichtlich dauernder Wertminderung i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG bei börsennotierten Aktien des AV durch den Wesentlichkeitsgrundsatz).
Der Wesentlichkeitsgrundsatz wird durch die inhaltlich im Verhältnis zu § 250 Abs. 1f. parallele Vorschrift des § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1f. EStG nicht außer Kraft gesetzt