Prof. Dr. Norbert Herzig, Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach
Rn. 334
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Die Globalisierung der Wirtschaftstätigkeit und der Kap.-Märkte zieht auch im Bereich des nationalen Bilanzrechts erhebliche Konsequenzen nach sich. Neben den insoweit im Vordergrund stehenden Konsequenzen für den KA stellt sich u. a. die Frage, ob und bis zu welchem Grad die IFRS, die sich für Zwecke einer informationsorientierten RL weltweit durchgesetzt haben, Auswirkungen auch auf den handelsrechtlichen JA und damit – über den Maßgeblichkeitsgrundsatz – auch für die steuerliche Gewinnermittlung haben. Es ist höchst zweifelhaft, ob die vom Gesetzgeber intendierte Spaltung der RL-Prinzipien zwischen einem informationsorientierten KA einerseits und einem ausschüttungsorientierten JA andererseits dauerhaft aufrechtzuerhalten ist (vgl. dazu bereits Schreiber, in: FS Fischer (1999), S. 879 (880); Heyd, ZfB 2001, S. 371 (380)). War aus deutscher Perspektive bis zum BilMoG häufig ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis der Rechenwerke i. d. S. festzustellen, dass eine ergebnisorientierte StB-Politik nicht selten die handelsrechtliche Gewinnermittlung dominierte, stellt sich mit Wegfall der formellen/umgekehrten Maßgeblichkeit und der handelsrechtlichen Öffnungsklauseln unter Beibehaltung der materiellen Maßgeblichkeit die Frage nach den grds. Folgewirkungen einer Internationalisierung der handelsrechtlichen RL um so drängender. Der deutsche Gesetzgeber war und ist stets bemüht, Änderungen der handelsrechtlichen RL unter dem Blickwinkel materieller Konsequenzen für die steuerliche Gewinnermittlung abzuwägen. Hingewiesen sei etwa auf das – im Ergebnis wohl vergebliche – Bestreben, die 4. EG-R (78/660/EWG) vom 25.07.1978 (ABl. EG, L 222/11ff. vom 14.08.1978) "steuerneutral" in nationales Recht zu transformieren (vgl. Biener/Bernecke (1986), S. 20ff.), sowie die tiefgreifenden Änderungen im Zuge des BilMoG, die ebenfalls prinzipiell "auf Steuerneutralität angelegt" waren (vgl. BT-Drs. 16/10067, S. 41), obschon eine solche nicht in jeder Hinsicht verwirklicht wurde. Gleichermaßen war die Umsetzung der Bilanz-R durch das BilRUG "auf Steuerneutralität ausgelegt" (vgl. BT-Drs. 18/4050, S. 55). Der Maßgeblichkeitsgrundsatz fungierte lange Zeit als "Bollwerk gegen Internationalisierungstendenzen" (Selchert, in: FS Fischer (1999), S. 913 (914)). In der jüngeren Gesetzgebungshistorie wurde die Abschottung gegen handelsrechtliche Internationalisierungstendenzen punktuell in das Steuerrecht selbst verlagert (bspw. das Stichtagsprinzip bei der Rückstellungsbewertung (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. f) EStG) sowie die Beschränkung des Rückgriffs auf den beizulegenden Zeitwert auf die zu Handelszwecken erworbenen Finanzinstrumenten von Steuerpflichtigen, die unter den Anwendungsbereich des § 340 fallen (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2b EStG)).
Rn. 335–340
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
vorläufig frei
1. Europäisierung des Steuerbilanzrechts
Rn. 341
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Die europäischen Bilanz-R (vgl. die 4. EG-R, erweitert durch die R 90/605/EWG des Rates vom 08.11.1990 (ABl. EG, L 317/60ff. vom 16.11.1990), ersetzt durch die Bilanz-R), die mit dem BiRiLiG durch spezifische Regelungen über die für alle Kaufleute geltenden GoB in den §§ 238ff. sowie ergänzende Vorschriften für KapG (ebenso wie derweil haftungsbeschränkte PersG i. S. d. § 264a) in den §§ 264ff. bzw. das BilRUG in innerstaatliches Recht umgesetzt wurden, werden von der Rspr. und der h. M. als Auslegungsgrundlage für die durch § 5 Abs. 1 EStG in Bezug genommenen handelsrechtlichen GoB grds. anerkannt (vgl. BFH, Urteil vom 15.09.2004, I R 5/04, BStBl. II 2009, S. 100; BFH, Urteil vom 08.11.2000, I R 6/96, BStBl. II 2001, S. 570; zum Diskussionsstand im Schrifttum H/H/R (2021), § 5 EStG, Rn. 44). Bereits die "Tomberger"-Entscheidung des EuGH (vgl. Urteil vom 27.06.1996, C-234/94, DStR 1996, S. 1093ff.) hat deutlich gemacht, dass Vorschriften des HGB, die auf Grundsätze der 4. EG-R (nunmehr: Bilanz-R) zurückgehen, R-konform auszulegen sind. Die GoB sind Begriffe europäischen Rechts geworden, die Auslegung geltender GoB ist nicht zwingend deckungsgleich mit der Auslegung vor dem BiRiLiG gültiger GoB. Der deutsche Gesetzgeber hat mit der gespaltenen Umsetzung der R-Vorgaben in Vorschriften, die für alle Kaufleute gelten (vgl. §§ 238ff.) und solche, die für KapG bzw. ihnen gleichgestellte PersG i. d. S. § 264a gelten (vgl. §§ 264ff.), das R-seitig auf KapG/PersG i. S. d. § 264a beschränkte Regelungsziel einseitig erweitert und damit zugleich eine Ausdehnung der Reichweite der Bilanz-R als Auslegungsmaßstab nationalen Rechts in Kauf genommen (vgl. z. B. Broer (2001), S. 282f.; Mayer (2005), S. 190). Eine z. T. vertretene rechtsformspezifisch differenzierte Auslegung der §§ 238ff. für KapG/PersG i. S. d. § 264a und Nicht-KapG verbietet sich damit. Der (rechtsformunabhängige) Verweis des § 5 Abs. 1 EStG auf handelsrechtliche GoB sieht die einheitliche Auslegung der GoB im Handels- und Steuerrecht ohne Rechtsformdifferenzierungen vor (vgl. Schön, in: FS Flick (1997), S. 573 (580f.); Herlinghaus, IStR 1...