Dr. Matthias Heiden, Dr. Christian F. Bosse
Rn. 60
Stand: EL 42 – ET: 05/2024
Zum besseren Verständnis der nachstehenden konkretisierenden Auslegung des § 91 Abs. 2 AktG soll die Entstehungsgeschichte dieser Norm in tabellarischer Form überblicksartig dargestellt werden (vgl. ausführlich Seibert, in: FS Bezzenberger (2000), S. 427ff.):
Datum |
Dokument |
Gesetzesstelle |
Inhalt |
08.09.1995 |
Abschlussbericht einer interminis-teriellen Arbeits-gruppe |
§ 264 Abs. 7 HGB-E |
„Die gesetzlichen Vertreter haben unter Berücksichtigung der Größe ihrer Gesellschaft und bei Mutterunternehmen ihres Konzerns geeignete Maßnahmen zu treffen, die gewährleisten, daß
- den Fortbestand des Unternehmens gefährdende Entwicklungen möglichst früh erkannt werden,
- risikobehaftete Geschäfte durch Verhaltensregelungen so begrenzt werden, dass solche Geschäfte den Fortbestand des Unternehmens nicht gefährden können, und
- Fehler und Einschätzungen, die sich auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft oder des Konzerns wesentlich auswirken, möglichst erkannt werden.
Dazu gehört auch die Einrichtung eines personell und mit Sachmitteln ausreichend ausgestatteten Überwachungssystems, das den gesetzlichen Vertretern unmittelbar untersteht, mit der Aufgabe, die Einhaltung der nach Satz 1 zu treffenden Maßnahmen zu überwachen.” |
22.11.1996 |
RefE KonTraG |
§ 93 Abs. 1 AktG-E |
"Sie (das heißt: die Vorstandsmitglieder) haben insbesondere unter Berücksichtigung der Art und Größe ihrer Gesellschaft und bei Mutterunternehmen im Sinne des § 290 des Handelsgesetzbuches ihres Konzerns geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, daß den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen, insbesondere risikobehaftete Geschäfte, Unrichtigkeiten der Rechnungslegung und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die sich auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft oder des Konzerns wesentlich auswirken, früh erkannt werden. Dazu gehört auch die Einrichtung eines Überwachungssystems mit der Aufgabe, die Einhaltung der nach Satz 2 zu treffenden Maßnahmen zu überwachen." |
27.04.1998 |
RegE sowie endgültige Gesetzesfassung |
§ 91 Abs. 2 AktG |
"Der Vorstand hat geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden." |
Im Laufe der Anhörungen im BMJ war der RefE erheblicher Kritik ausgesetzt (vgl. etwa Lutter, AG-Sonderheft 8/1997, S. 52 (54)). Wesentliche Impulse ergaben sich aus der Stellungnahme des IDW (vgl. Seibert, in: FS Bezzenberger (2000), S. 427 (434); Zimmer/Sonneborn (2001), Rn. 151) sowie des DAV (vgl. ausführlich DAV, ZIP 1997, S. 163 (165f.)). Letztere Stellungnahme gab ob ihrer Kritik an Systematik und Inhalt der für den § 93 AktG-E vorgesehenen Norm den entscheidenden Anstoß zur Neuformulierung der Vorschrift im Zuge des RegE. Kontrastierend zur endgültigen Fassung spiegelten die verschiedenen Entwurfstadien eine Garantielast wider, Risiken vollständig entdecken sowie offenlegen zu müssen (vgl. Hommelhoff/Mattheus (2000), S. 13).
Aus dem Bericht des Rechtsausschusses ebenso wie den BR-Beratungen ergaben sich keine zusätzlichen Informationen (vgl. so auch Seibert, in: FS Bezzenberger (2000), S. 427 (436); Zimmer/Sonneborn (2001), Rn. 155).
Rn. 61
Stand: EL 42 – ET: 05/2024
Nachfolgend sollen – die weiteren Ausführungen einleitend – stellvertretend die wesentlichen Schlussfolgerungen wiedergegeben werden, die Seibert aus der Entstehungsgeschichte für die Normeninterpretation gezogen hat (vgl. Seibert, in: FS Bezzenberger (2000), S. 427 (437f.)):
- Bestandsgefährdende Entwicklungen sollen nicht ausgeschlossen werden, sondern dem Vorstand zur Kenntnis gebracht werden.
- Es geht nicht um den Strategieerreichungsgrad oder den UN-Erfolg i. A. beeinflussende negative Entwicklungen, sondern um solche, die ein UN respektive einen Konzern in seinem (Fort-)Bestand bedrohen.
- Diese aktienrechtliche Norm hat nicht Aspekte der Risikobewältigung oder Risikominimierung zum Inhalt.
- Ansatzpunkt des Gesetzes sind konkrete, anlaufende Entwicklungen, deren frühzeitiges Erkennen die Möglichkeit zur rechtzeitigen Einleitung von Gegenmaßnahmen liefert. Hierzu zählen auch bestandsgefährdende Risiken durch Klimarisiken oder sonstige nicht finanzielle Risiken (vgl. AKEIÜ, DB 2010, S. 1245; BeckOGK-AktG (2023), § 91, Rn. 32f.). Dies schließt sowohl latente bzw. hypothetische Entwicklungen als auch unvorhersehbare spontane Geschehnisse (Unglücke, Terrorakte o. Ä.) aus.
- Gegenstand der Norm ist ein Frühwarnsystem.
- Die Verwendung des Begriffs "System" bezieht sich auf die "planmäßige Aufbereitung, Zusammenstellung, die einheitliche Zusammenfassung der im Unternehmen bestehenden Früherkennungsinstrumente" (Seibert, in: FS Bezzenberger (2000), S. 427 (438)).