Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
Rn. 19
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Schon unmittelbar nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung entbrannte in der Gesellschaftsrechtswissenschaft der Meinungsstreit darüber, ob durch die §§ 311ff. AktG eine Privilegierung der faktischen UN-Verbindung erfolgt und die Schädigung der abhängigen Gesellschaft legalisiert worden sei. Der Meinungsstreit ist eine nahezu zwangsläufige Folge der wenig glücklichen gesetzlichen Kompromisslösung, mit der die heterogenen Zielsetzungen der Beteiligten überdeckt wurden (vgl. Würdinger (1973), S. 294). Dementsprechend lassen sich für beide Ansichten Anhaltspunkte sowohl im Wortlaut, in der Genese als auch der Gesetzessystematik finden. Der Streit betrifft zwar keine reine juristische Konstruktionskontroverse, darf in seiner praktischen Bedeutung aber auch nicht überschätzt werden. Nach zutreffender, inzwischen wohl h. M. begründen die §§ 311ff. AktG kein "Schädigungsprivileg" zugunsten des beherrschenden UN (vgl. so zutreffend BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 116; Altmeppen (2007), S. 1047; Altmeppen (1998), S. 57ff.; Schön, in: FS Kropff (1997), S. 285ff.; Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 92; a. A. v.a. Habersack, in: FS Peltzer (2001), S. 139 (141), und Schmidt (2002), S. 959ff.). Stellt man angesichts des anerkanntermaßen missglückten Regelungsmodells die sich weitgehend neutralisierenden systematischen und grammatikalischen Erwägungen zurück und orientiert sich sachgerecht vorrangig am gesetzlichen Regelungsziel, so ging es dem Gesetzgeber ersichtlich gerade um die Sicherung eines grds. Schädigungsverbots durch gesteigerte Berichts- und Prüfungspflichten. § 311 AktG sieht zwar eine zeitliche Streckung des Nachteilsausgleichs vor, stellt die Notwendigkeit einer vollständigen Kompensation veranlasster Nachteile durch eine gleichwertige Gegenleistung jedoch nicht in Frage. Schon aus praktischen Gründen ließe sich eine zeitgleiche Abwicklung von Leistung (= Durchführung einer nachteiligen Maßnahme durch die abhängige Gesellschaft) und Gegenleistung (= Ausgleichszahlung) nicht verwirklichen.
Rn. 20
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Zulässigkeit der Veranlassung nachteiliger Handlungen setzt voraus, dass bei der herrschenden Gesellschaft bereits zum Zeitpunkt der Einflussnahme die Bereitschaft zum Ausgleich besteht und mit der abhängigen Gesellschaft hierüber eine Verständigung erzielt wird. Die Möglichkeit einer zeitlichen Streckung der Kompensationsleistung ändert nichts an der sofort entstehenden Verpflichtung der beherrschenden Gesellschaft zum Nachteilsausgleich. Die Besonderheit der gesetzlichen Regelung der §§ 311ff. AktG liegt lediglich darin, dass die Ausgleichspflicht nicht gerichtlich durchsetzbar ist, sondern sich mit Ende des GJ in eine Schadensersatzpflicht (vgl. § 317 AktG) umwandelt. Nur in einem sehr eingeschränkten Sinne kann § 311 AktG daher als Konzernprivileg verstanden werden.
Rn. 21
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Während die Leitungsmacht des herrschenden UN im Vertragskonzern auf einem besonderen gesellschaftsrechtlichen Organisationsakt beruht, der satzungsgleich den rechtlichen Status des TU verändert (vgl. BGH, Beschluß vom 24.10.1988, II ZB 7/88, BGHZ 105, S. 324 (331)) und sein Vermögen dem vollständigen Zugriff des MU preisgibt, bleibt die Vermögensbindung in der faktischen UN-Verbindung erhalten (vgl. Schön, in: FS Kropff (1997), S. 285 (298f.)). Ein gesetzliches oder vertragliches Weisungsrecht gegenüber der abhängigen Gesellschaft besteht nach h. M. nicht (vgl. Lutter, in: FS Peltzer (2001), S. 241 (242); KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 10, jeweils m. w. N.; a. A. Schmidt (2002), S. 963). Dabei ist die Festschreibung eines konzernrechtlichen "Schädigungsprivilegs" aus einer Gesamtschau des Gesellschaftsrechts wenig plausibel, zumal nicht nachvollziehbar ist, dass die Schädigung ausgerechnet einer abhängigen AG, KGaA bzw. SE erlaubt, diejenige einer abhängigen GmbH dagegen verboten sein soll. Zudem ist es nicht einsichtig, weshalb die von beherrschenden UN "veranlassten" Benachteiligungen durch die §§ 311ff. AktG gegenüber den nicht veranlassten "freiwilligen" Benachteiligungen der abhängigen Gesellschaft begünstigt werden sollten (vgl. Altmeppen (1998), S. 57ff.).