Dr. Alfred Simlacher, Dr. Stephan Vossel
Rn. 750
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Steuerlatenzen nach § 274 wurden während des Gesetzgebungsprozesses und nach Inkrafttreten des BilMoG kontrovers diskutiert. Denn die HGB-Bilanzierungspraxis im JA, in welcher latente Steuern vormals kaum eine Rolle gespielt hatten (vgl. Herzig/Vossel, BB 2009, S. 1174), sah sich einer Vorschrift gegenüber, die durch Anwendung des Temporary- anstatt des Timing-Konzepts einen weiteren Blick auf steuerlatenzrelevante Sachverhalte besaß. Zudem sorgte das Auseinanderdriften von handels- und steuerrechtlichen Ansatz- und Bewertungsvorschriften zu einer Häufung von Differenzsituationen. Gefestigte Anwendungsüberlegungen stammten zu diesem Zeitpunkt meist aus der Konzern-RL und hier v.a. aus der Anwendung der internationalen RL-Standards. Die konträre Gegenauffassung lehnte die Bilanzierung latenter Steuern grds. ab (vgl. hierzu bspw. Küting (2008), S. 11 (13)).
Rn. 751
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Gesetzgeber tat sein Übriges, um die Situation zu verkomplizieren. Ausgehend von einer zuvor intendierten unsaldierten Ausweisverpflichtung für aktive und passive latente Steuern (vgl. BT-Drs. 16/10067, S. 9, 67f.) wurde § 274 mit einem Ausweiswahlrecht eines Aktivsaldos latenter Steuern (vgl. § 274 Abs. 1 Satz 2) und einem Wahlrecht zum unsaldierten Ausweis aktiver und passiver latenter Steuern (vgl. § 274 Abs. 1 Satz 3) ausgestattet. Dem Aktivierungswahlrecht lag eine Vereinfachungsabsicht zugrunde, um den Kaufleuten eine Möglichkeit zu eröffnen, den Ermittlungs- und Dokumentationsaufwand i. V. m. aktiven latenten Steuern zu vermindern (vgl. BR-Drs. 344/08(B), S. 8). Ob dies tatsächlich erreicht wird, ist zweifelhaft, da zur Feststellung eines Aktivüberhangs detaillierte Überlegungen zu aktiven und passiven latenten Steuern angestellt werden müssen (vgl. Herzig/Vossel, BB 2009, S. 1174 (1177f.)). Weiterhin wurde deutlich gemacht, dass § 274 die Gesamtdifferenzbetrachtung und die hiermit verbundene Bilanzierung entweder eines aktiven oder eines passiven Überhangs latenter Steuern beibehalten soll (vgl. BT-Drs. 16/12407, S. 87). Das Wahlrecht eines unsaldierten Ausweises nach § 274 Abs. 1 Satz 3 soll nur die Möglichkeit zur besseren Information der Abschlussadressaten eröffnen. Hieraus ist abzuleiten, dass der saldierte Ausweis zumindest gleichwertig neben dem unsaldierten steht. Flankiert wird § 274 durch eine Befreiung für kleine und Kleinst-KapG in § 274a Nr. 4 i. V. m. § 267a Abs. 2 sowie diesen gleichgestellten PersG i. S. d. § 264a. Weiterhin besteht nach § 285 Nr. 29 – sofern der Kaufmann nicht eine Befreiungsnorm in Anspruch nimmt bzw. nehmen kann – die Notwendigkeit, Anhangangaben darüber zu machen, auf welchen Differenzen oder steuerlichen Verlustvorträgen die latenten Steuern beruhen und mit welchen Steuersätzen die Bewertung erfolgt ist. Dies gilt unabhängig davon, ob in der Bilanz latente Steuern ausgewiesen werden (vgl. BT-Drs. 16/12407, S. 88). Teilweise wird angenommen, dass aktive latente Steuern eines (nicht bilanzierten) Aktivüberhangs nicht weiter erläutert werden müssen (vgl. Beck Bil-Komm. (2024), § 285 HGB, Rn. 831; a. A. Loitz, DB 2010, S. 2177 (2185); für den KA DRS 18.64; die Angabe bei einem Aktivüberhang empfehlend Bonner HGB-Komm. (2023), § 285, Rn. 416). Doch selbst in diesem Fall ist es für den Bilanzierenden notwendig, das gesamte Spektrum steuerlatenzauslösender Sachverhalte im Auge zu behalten. Insgesamt stellen sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen daher als ambivalent dar.
Rn. 752
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
In der Bilanzierungspraxis sind zunächst die nicht kap.-marktorientierten UN in den Blick zu nehmen. Hier ist zu beobachten, dass häufig noch Einheitsbilanzen aufgestellt werden (vgl. Müller/Panzer/Reinke, StuB 2012, S. 937 (939f.); 41 % in der Untersuchung von Ertel/Rosnitschek/Schanz, DStR 2018, S. 41 (43)). Bei den beteiligten Erstellern von JA und Steuererklärungen könnte durchaus die Intention bestehen, das Auftreten latenter Steuern bereits an dieser Stelle zu entschärfen. Kleine und Kleinst-UN, welche über Bilanzdifferenzen verfügen, nutzen überwiegend die Befreiungsnorm des § 274a (62,5 % bei Müller/Panzer/Reinke, StuB 2012, S. 937 (940); 83 % bei Ertel/Rosnitschek/Schanz, DStR 2018, S. 41 (43)) und auch mittlere und große KapG ebenso wie PersG i. S. d. § 264a setzen latente Steuern dank Aktivüberhang in der Bilanz meist nicht an (nur 15 % bei Ertel/Rosnitschek/Schanz, DStR 2018, S. 41 (43)). Selbst bei börsennotierten KapG überwiegt der Nichtansatz latenter Steuern im handelsrechtlichen JA (vgl. Theile/Nagafi/Zyczkowski, BBK 2011, S. 912 (937); Spengel/Evers/Meier, DB 2015, S. 7 (8f.)). Auch das Wahlrecht zur Aktivierung latenter Steuern wird scheinbar nur sehr zurückhaltend genutzt (14,97 % bei Antonakopoulos/Rummel, IRZ 2023, S. 181 (182)). Weiterhin ist über alle Gesellschaften festzustellen, dass der saldierte Ausweis wesentlich häufiger genutzt wird als der unsaldierte (vgl. Theile/Nagafi/Zyczkowski, BBK 2011, S. 912 (937); Froschhamme...