Prof. Dr. Heribert Anzinger, Prof. Dr. Nadine Antonakopoulos
Tz. 94
Der Begriff der GoB bezieht sich in seiner historischen Prägung auf die kontinental-europäischen Bilanzierungsbräuche, die sich im deutschen, italienischen und französischen Handelsbilanzrecht entwickelt haben. Die §§ 243 Abs. 1, 264 Abs. 2 Satz 1 HGB adressieren die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung (materielle GoB, vgl. Kapitel 1) als Teilsystem der GoB. Der Gesetzgeber unterscheidet nicht zwischen formellen GoB (GoB im engeren Sinne für die Buchführung und die Inventur) und materiellen GoB (Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für die Eröffnungsbilanz und den Jahresabschluss). Bereits in § 38 Abs. 1 HGB 1897 bildet die "Buchführung" den einheitlichen Oberbegriff für Buchhaltung, Inventur, Inventar, Bilanzierung und den handelsrechtlichen Jahresabschluss. Zutreffend versteht der Gesetzgeber damit die GoB als einheitliches System in dem Buchführung und Bilanzierung funktionell verschränkt sind. In diesem System bilden die materiellen Bilanzierungsgrundsätze eine selbständige Gruppe übergeordneter GoB, deren Bilanzierungsgrundsätze das Gesamtsystem der GoB prägen.
Tz. 95
Die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, auf die §§ 243 Abs. 1, 264 Abs. 2 HGB verweisen, bezeichnen das äußere System der materiellen Bilanzierungsvorschriften, die dem inneren Zielsystem einer ordnungsmäßigen Bilanzierung entsprechen. Diese Grundsätze werden ebenso wie ihr inneres Zielsystem von den gesetzlichen Bilanzierungsvorschriften in den §§ 243–256a HGB geprägt und können in diesen Vorschriften zutreffend wiedergegeben worden sein. Die GoB sind aber nicht mit diesen Vorschriften identisch und werden dort auch nicht geregelt.
Deshalb kann das HGB grundsätzlich auch GoB-widrige Bilanzierungsvorschriften enthalten, etwa dann, wenn einzelne Vorschriften übergeordnete Bilanzierungsgrundsätze ohne rechtfertigenden Grund nicht folgerichtig ausgestalten. Gegen die übergeordneten Bilanzierungsgrundsätze verstoßen etwa Wahlrechte für den Ansatz oder die Bewertung, weil das innere Zielsystem der GoB eine ungestaltbar objektive Information über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage verlangt. Deshalb ist zum Beispiel das durch BilMoG gem. § 248 Abs. 2 HGB neu eingefügte Aktivierungswahlrecht für selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens kein GoB. Solche Vorschriften gehen den GoB nach den allgemeinen Regeln der Normenkonkurrenz gleichwohl vor, weil sie eine gegenüber § 243 HGB speziellere Regelung enthalten.
Die GoB entwickeln sich auch, aber nicht ausschließlich beeinflusst von den gesetzlichen Bilanzierungsvorschriften durch Veränderungen der Lebenswirklichkeit, der Verkehrserwartungen, äußerer Einflüsse aus anderen Rechtsgebieten und Rechtsordnungen, etwa aus dem Steuerrecht und den internationalen Rechnungslegungsstandards und stellen insofern ein offenes System dar. Jede Entwicklung setzt aber voraus, dass das System in sich konsistent bleibt. Neue GoB können sich daher nur dann bilden, wenn sie dem inneren Zielsystem entsprechen oder das innere Zielsystem mitverändert wird. Das kann etwa der Fall sein, wenn sich die Gewichtung zwischen der Informationsfunktion und der Ausschüttungsbegrenzungsfunktion des Jahresabschlusses durch die äußeren Einflüsse wesentlich und nachhaltig verändert.
Tz. 96
Die Vorschriften der §§ 243 Abs. 1 Satz 1 und 264 Abs. 2 Satz 1 HGB verweisen auf dieselben einheitlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung. Es gibt keine rechtsformspezifisch isoliert voneinander bestehende GoB. Die GoB können als Gesamtsystem aber ergänzende branchen- oder rechtsformspezifische Einzelregelungen enthalten, die dann GoB sind, wenn sie das System der GoB folgerichtig ausgestalten. Branchen- und rechtsformbezogene GoB sind eine zweckbezogene Teilmenge der allgemeinen GoB mit eingeschränktem Anwendungsbereich.