Prof. Dr. Heribert Anzinger, Prof. Dr. Nadine Antonakopoulos
Tz. 98
Unter dem Eindruck des Wettbewerbs zweier konkurrierender Rechnungslegungssysteme wird im Schrifttum das System der Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung zutreffend mit einer dualen Zwecksetzung beschrieben. Gegenübergestellt wird die Informations- und die Ausschüttungsbegrenzungsfunktion. Die Gleichrangigkeit beider Zwecke gilt im Schrifttum als Wesensmerkmal der Jahresabschluss-GoB. Sucht man die Rechnungslegungszwecke zur Ableitung einzelner GoB auszubreiten, ist es hilfreich, weiter zu differenzieren. Unterscheiden lassen sich im inneren System des Handelsbilanzrechts nach BiRiLiG und BilMoG mit unterschiedlichen Funktionen sechs Rechnungslegungszwecke der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung. Sie lassen sich aus der Entstehungsgeschichte, dem System und dem Zweck der handelsrechtlichen Bilanzierung ableiten:
- Selbstinformation des Kaufmanns und Unternehmensführung
- Dokumentation
- Rechenschaft
- Ausschüttungsbegrenzung und Kapitalerhaltung
- Gewinnverteilung
- Kapitalmarktinformation
Tz. 99
Der Jahresabschluss ist zuerst ein Instrument guter Unternehmensführung (Corporate Governance). Er trägt dazu bei, Risiken ebenso wie Chancen für das Unternehmen frühzeitig zu erkennen. Ein Reflex dieser Pflicht ist der Schutz der Eigentümer und der Gläubiger vor der Insolvenzgefahr. Die handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften zwingen den Unternehmer dazu, sich einen gesetzlich vorstrukturierten Überblick über seine Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu verschaffen, der ihm auch einen Vergleich mit anderen Unternehmen ermöglicht (Selbstinformationszweck).
Tz. 100
Darüber hinaus erfüllt der Jahresabschluss einen selbständigen Dokumentationszweck auch für außenstehende Dritte. Dieser Drittinformationszweck kommt für die Buchführung in § 238 Abs. 1 Satz 2 und 3 HGB zum Ausdruck. Und auch die Bilanz soll die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage so dokumentieren, dass ein Dritter, z. B. in der Insolvenz, sich jederzeit einen Überblick darüber verschaffen kann. Der Dokumentationszweck spiegelt sich schließlich deutlich in den Aufbewahrungs- und Vorlagepflichten der §§ 257–261 HGB, die neben dem Unternehmer, den Gesellschaftern und Kapitalmarktteilnehmern auch Dritte, z. B. Erben (§ 260 HGB) als Informationsadressaten der Jahresschlusses ausweisen.
Tz. 101
Der Rechenschaftszweck des Jahresabschlusses ergibt sich aus der allgemeinen Pflicht zur Rechenschaft über die Besorgung fremder Vermögensinteressen, wie sie grundlegend in § 666 BGB geregelt ist. Bezogen auf den Jahresabschluss lässt er sich den Vorschriften gem. § 242 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 HGB entnehmen. Eine Pflicht zur jährlichen Aufstellung eines Jahresabschlusses, der das Verhältnis von Vermögen, Schulden, Aufwendungen und Erträgen darstellt, ist Rechenschaftspflicht über den Unternehmenserfolg des vergangenen Wirtschaftsjahres. Mit den Urtypen der Personenhandelsgesellschaft, Commenda und Quirad, lässt sich die Bedeutung der Rechenschaftspflicht für das deutsche Handelsbilanzrecht auch historisch ergründen. Wesenszug dieser frühen die Entwicklung des Handelsbilanzrechts prägenden Gesellschaftsformen war die Arbeitsteilung zwischen Kapitalgebern und Geschäftsführern, wie sie heute bei der gesetzestypischen Kommanditgesellschaft besonders zum Ausdruck kommt. Der Commendatore nahm ihm anvertrautes Kapital entgegen, suchte es durch Handel zu mehren und hatte nach Abschluss der Geschäfte Rechenschaft abzulegen. Die Kapitalgeber hatten das Recht die Abrechnung zu prüfen und die Kapitaleinlage vermehrt um die Gewinne und vermindert um die Verluste zurückzunehmen oder wiederanzulegen. Dieser Rechenschaftsgedanke kommt naturgemäß immer dort besonders zum Tragen, wo Eigentum und Kontrolle auseinanderfallen. Das ist bei Personen- und Kapitalgesellschaften regelmäßig der Fall, nicht aber bei Einzelunternehmern, weshalb § 241a HGB und § 242 Abs. 4 HGB nur für Einzelkaufleute eine größenabhängige Befreiung von der Bilanzierungspflicht vorsehen können. Mit einem unterschiedlich ausprägten Rechenschaftsbedürfnis lassen sich auch die strengeren Bilanzierungsvorschriften für Kapitalgesellschaften und zugleich größenabhängige Abstufungen der Rechenschaftspflicht durch Bilanzierung begründen.
Erweitert man das Ziel der Rechenschaft und den Kreis der Rechenschaftsadressaten, über die Vermögensberechtigten hinaus auf alle am Unternehmen interessierten Personen und erweitert den Gegenstand der Rechenschaft auf Prognosen für die Zukunft, verfließt die Rechenschafts- mit der Informationsfunktion.
Tz. 102
In der Ausschüttungsbegrenzungs - und Kapitalerhaltungsfunktion drücken sich mehrere zentrale Wesensmerkmale des deutschen Handelsbilanzrechts aus. Die gesellschaftsrechtlichen Kapitalerhaltungsvorschriften setzen Regeln der Vermögensfeststellung und der Gewinnermittlung voraus, aus denen sich der der Vermögensbindung nicht unterfallende Teil des Eigenkapi...