Prof. Dr. Heribert Anzinger, Prof. Dr. Nadine Antonakopoulos
Tz. 86
Die rechtspolitische Diskussion und die Entwicklung des Handelsbilanzrechts wird von den unionsrechtlichen Bezügen, von den Einflüssen der internationalen Rechnungslegungsstandards, des Steuerbilanzrechts, des Gesellschaftsrechts, von der Ausbildung der Rechtsanwender und von wirtschaftlichen Interessen getrieben. Neue Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Forschung erreichen das Handelsbilanzrecht meist nur mittelbar durch die internationalen Rechnungslegungsstandards.
Tz. 87
Seit dem BiRiLiG ist das Handelsbilanzrecht mit vorrangigem Unionsrecht verknüpft. Aus dieser Verbindung ergibt sich regelmäßiger Anpassungsbedarf und auch kleinere Änderungen der Jahresabschlussrichtlinie lösen im nationalen Recht über das notwendige Maß hinausreichende Reformdiskussionen aus. Zuletzt hat die Totalrevision der Jahresabschlussrichtlinie die rechtspolitische Diskussion über die Grundsätze des Jahresabschluss belebt. Die Richtlinie eröffnet neue Mitgliedstaatenwahlrechte, die in weiterem Umfang als bisher auch eine Abkehr vom Anschaffungs- und Herstellungskostenhöchstwertprinzip erlauben würden (vgl. Art. 8 der RL). Einige der neu eingefügten Vorschriften eröffnen darüber hinaus den Weg zu einer weiteren Annäherung an die internationalen Rechnungslegungsstandards. Zu nennen sind die Grundsätze der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, das Wesentlichkeitsprinzip und das Mitgliedstaatenwahlrecht einer erfolgsneutralen Neubewertung und erfolgswirksamen Höherbewertung zum Zeitwert. Darin erkennen Verfechter unterschiedlicher Bilanzierungstraditionen die Gelegenheit, das fragile Gleichgewicht zwischen Vorsicht und Einblick in der handelsrechtlichen Rechnungslegung neu auszutarieren. Von solchen Experimenten ist Abstand zu nehmen. Die Erfahrungen mit der Höherbewertung zum beizulegenden Zeitwert in den internationalen Rechnungslegungsstandards sind nicht ermutigend. Für kleine und mittlere Unternehmen ist eine Bewertung zum Zeitwert zudem mit erheblichen Kosten verbunden. Die stärkere Betonung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und des Wesentlichkeitsprinzips sind aus deutscher Sicht nicht neu. Soweit sie nicht ausdrücklich geregelt sind, entsprechen sie den Grundsätzen der ordnungsmäßigen Bilanzierung. Für die §§ 243 und 264 Abs. 2 HGB hat sich aus der Revision der Jahresabschlussrichtlinie kein Anpassungsbedarf ergeben. Der Gesetzgeber hat mit dem BilRuG überzeugend keine Änderungen an diesen Vorschriften vorgenommen. Auf die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung könnten allerdings die Erleichterungen für Kleinstkapitalgesellschaften zurückwirken und eine allgemeine Rekalibrierung des Wesentlichkeitsgrundsatzes bewirken.
Tz. 88
Mit dem BilMoG hat das deutsche Handelsbilanzrecht an verschiedenen Stellen Bilanzierungsgrundsätze der internationalen Rechnungslegungsstandards des IASB übernommen. Obgleich es sich dabei nur um punktuelle Angleichungen handelt, hat dies die nicht ganz neue Diskussion darüber befeuert, ob mit Blick auf die Internationalisierung der Rechnungslegung eine Neuausrichtung der Bilanzierungsgrundsätze nötig sei. Überlegt wurde auch, ob für die angeglichen Bilanzierungsvorschriften die Interpretation der internationalen Rechnungslegungsstandards maßgeblich sei, und daraus eine "schleichende IFRS-Unterwanderung der GoB" drohen könnte. Überzeugend sind die Gegenstimmen, die auf die unterschiedlichen Zielsysteme hinweisen. Während die handelsrechtlichen Bilanzierungsgrundsätze dem Handels- und Gesellschaftsrecht zuzuordnen und auf den Schutz der Gesellschafter und Gläubiger ausgerichtet sind, folgt die Ausrichtung der internationalen Rechnungslegungsstandards dem Ziel, die Kapitalmarktteilnehmer zu schützen. Die IFRS sind im Kern Kapitalmarktrecht, nicht nur kapitalmarktorientiert. Schon deshalb verbietet sich deren unbesehene Übernahme in die handelsrechtlichen GoB. Die unterschiedlichen Verortungen und Zwecksetzungen verbieten aber nicht jede übereinstimmende Interpretation. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es bei einzelnen Regeln Überschneidungen in den Zielen und der bilanziellen Abbildung des gleichen Sachverhalts gibt. Der rechtsvergleichende Blick in die internationalen Rechnungslegungsstandards setzt aber das Bewusstsein für die unterschiedlichen Zwecke und Regelungstechniken voraus.
Tz. 89
Ein traditionell bedeutsamer Treiber der Entwicklung des Handelsbilanzrechts ist das Steuerrecht (vgl. Kapitel 1). Über den dort geltenden Maßgeblichkeitsgrundsatz kommen regelmäßig gleichermaßen wertvolle wie schädliche Impulse für die rechtspolitische Diskussion und Entwicklung der Bilanzierungsgrundsätze. Mit der im handelsrechtlichen Schrifttum vielfach geforderten Aufhebung der Bedingung kongruenter Wahlrechtsausübung für die Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen (Arbeitsbegriff: "umgekehr...