Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
Tz. 559
Die beiden in IAS 37.14(a) zusammengefassten Kriterien der gegenwärtigen Verpflichtung (present obligation) und des vergangenen Ereignisses (past event) sind untrennbar miteinander verknüpft; schließlich bedarf es für das Vorliegen einer gegenwärtigen Verpflichtung eines Ereignisses in der Vergangenheit, welches diese auslöst. Man spricht dabei von einem verpflichtenden Ereignis (obligating event). Mit diesem Kriterium stellt das IASB klar, dass eine Rückstellungsbildung nur dann in Frage kommt, wenn das Unternehmen keine realistische Alternative zur Erfüllung der durch das verpflichtende Ereignis entstandenen Verpflichtung hat (IAS 37.17). In der Literatur wird in diesem Kontext auch von Unentziehbarkeit gesprochen. Damit sich das Unternehmen der Verpflichtung nicht mehr entziehen kann, muss
- die Erfüllung der Verpflichtung entweder rechtlich durchsetzbar (enforcable by law) sein oder
- das Unternehmen aufgrund wirtschaftlicher Gründe faktisch keine Alternative zu ihrer Erfüllung haben (constructive obligation), da das Unternehmen durch sein Geschäftsgebaren oder öffentliche Äußerungen bei der Gegenpartei die gerechtfertigte Erwartung geweckt (created valid expectations) hat, dass das Unternehmen seine Verpflichtung erfüllen wird.
BEISPIEL
Die XY-AG verkauft ihre Produkte in einem südamerikanischen Staat, in dem keine gesetzlichen Regelungen zur Übernahme von Gewährleistungen bestehen. Dies bedeutet, dass aus einem Kaufvertrag keine Übernahme einer Verpflichtung zur Beseitigung von Fehlern durch Ersatz oder Reparatur resultiert. Die erklärte Firmenpolitik der XY-AG, die sie auch in Form von Werbeaktionen verkündet, ist es aber, Fehler an den Produkten, die innerhalb der ersten beiden Jahre nach dem Verkauf auftreten, auf freiwilliger Basis zu beseitigen. Aufgrund der Erfahrungen der Vorjahre ist es wahrscheinlich, dass hieraus Verpflichtungen entstehen.
Das verpflichtende Ereignis stellt im vorliegenden Fall der Verkauf der Produkte dar. Durch die öffentlichen Äußerungen zur Fehlerbeseitigung, sofern diese innerhalb der ersten beiden Jahre nach dem Verkauf auftreten, hat das Unternehmen beim Kunden eine gerechtfertigte Erwartung geweckt, dass das Unternehmen diese Verpflichtung auch erfüllen wird. Damit besteht eine faktische Verpflichtung, der sich das Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen nicht entziehen kann.
Tz. 560
Hängt eine Verpflichtung hingegen vom Eintritt eines künftigen Ereignisses ab, liegt ggf. eine Eventualverbindlichkeit vor. Eine Rückstellungsbildung scheidet dagegen aus. Selbiges gilt für Aufwendungen, die von der künftigen Geschäftstätigkeit (future conduct of its business) des Unternehmens abhängen (IAS 37.19). So sind beispielsweise gesetzlich verpflichtende Rekultivierungskosten für bereits entstandene Umweltschäden passivierungspflichtig, während eine Rückstellungsbildung dann nicht in Betracht kommt, wenn das Unternehmen die Umweltschäden durch seine künftigen Handlungen vermeiden kann, z. B. durch Änderung seines Produktionsverfahrens.
BEISPIEL
Ein Flugzeug muss aufgrund gesetzlicher Vorgaben alle drei Jahre einer Generalüberholung unterzogen werden. Sollte diese nicht erfolgen, darf das Flugzeug nicht mehr eingesetzt werden.
Es besteht keine gegenwärtige Verpflichtung aus einem vergangenen Ereignis. Vielmehr handelt es sich hierbei um Aufwendungen der künftigen Geschäftstätigkeit. So könnte sich das Unternehmen der Erfüllung dieser Verpflichtung und damit den Kosten für die Überholung des Flugzeugs z. B. durch dessen Verkauf entziehen. Stattdessen wird im Rahmen des Komponentenansatzes (vgl. Kapitel 6 Tz. 105) die Aktivierung einer Komponente "Generalüberholung" ermöglicht, die dann über drei Jahre abgeschrieben wird.
Auch für künftige betriebliche Verluste (future operating losses) sind keine Rückstellungen zu bilden (IAS 37.63). Sie entsprechen weder der Schuldendefinition, noch erfüllen Sie die Ansatzkriterien für eine Rückstellung. Allerdings können Verlusterwartungen Anzeichen für Wertminderungen bestimmter Vermögenswerte gem. IAS 36 sein (vgl. Kapitel 6 Tz. 449).
Tz. 561
In diesem Zusammenhang greift IFRIC 6 die Vorgaben der Richtlinie 2002/96/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.01.2003 über Elektro- und Elektronik-Altgeräte auf. Danach werden zwei Kategorien von Altgeräten unterschieden:
- "neue" Altgeräte (new waste), die nach dem 13.08.2005 verkauft wurden und
- "historische" Altgeräte (historical waste), die bis zum 13.08.2005 verkauft wurden.
Nach den Vorgaben der Richtlinie sind die Kosten für die Entsorgung der Altgeräte (decommissioning of waste) vom Hersteller zu tragen. Bei neuen Altgeräten muss ein Hersteller, der ein entsprechendes Gerät in Umlauf bringt, die Finanzierung der Entsorgung des Geräts gewährleisten. Zur Finanzierung der Entsorgung historischer Altgeräte tragen alle im Erfassungszeitpunkt bestehenden Hersteller anteilsmäßig, z. B. im Verhältnis zum Marktanteil des betreffenden Gerätetyps, bei. Es wird demnach nicht auf den Zeitp...