Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 59
Wie die handelsrechtlichen GoB, setzen die IFRS nach CF.4.1 und IAS 1.25 in den einzelnen Bewertungsvorschriften die Annahme (underlying assumption) der Unternehmensfortführung (going concern) voraus (vgl. Kapitel 4). Deshalb hat das Management bei der Aufstellung des Abschlusses nach IAS 1.25 Satz 1 zuerst eine Fortführungsprognose vorzunehmen. Den Sorgfaltsmaßstab für diese Prognose konkretisiert IAS 1.26. Bei rentablen Unternehmen, deren Liquidität gesichert erscheint, darf nach IAS 1.26 Satz 3 ohne Einzelprüfung von der Fortführung des Unternehmens ausgegangen werden. In allen anderen Fällen ist nach IAS 1.26 Satz 4 eine sorgfältige Prognose unter Berücksichtigung der derzeitigen und künftigen Rentabilität, Schuldentilgungsplänen und potenziellen Refinanzierungsquellen vorzunehmen. Die Prognose ist auf einen Zeitraum von 12 Monaten nach dem Abschlussstichtag zu erstrecken, aber nicht darauf beschränkt (vgl. IAS 1.26 Satz 1).
IAS 10.14 enthält eine Durchbrechung des Stichtagsprinzips für die Fortführungsprognose. Ereignisse nach dem Bilanzstichtag, die eine negative Fortführungsprognose begründen, müssen bis zur Genehmigung der Veröffentlichung des Abschlusses noch berücksichtigt werden. Dazu gehören die Absicht des Managements, das Unternehmen in den ersten zwölf Monaten nach dem Abschlussstichtag aufzugeben, oder Umstände, die eine Unternehmensbeendigung in diesen Zeitraum erzwingen. IAS 10.15 erweitert zeitlich entsprechend die Pflicht zur Durchführung einer Fortführungsprognose. Analog IAS 10.14 sind auch Ereignisse, die eine ursprünglich negative Fortführungsprognose widerlegen können, noch bis zur Genehmigung der Veröffentlichung des Abschlusses zu berücksichtigen.
Eine negative Fortführungsprognose muss bei der Bewertung durchgehend berücksichtigt werden. Die IFRS enthalten für diesen Fall, abgesehen von IFRS 5, keinen eigenen Standard. Das ist auch nicht erforderlich. Die voraussichtliche Beendigung des Unternehmens ist als Sachverhaltselement bei der Wahl der Rechnungslegungsmethoden und der Durchführung der Bewertung zugrunde zu legen. Folgen können sich insbesondere für die Bildung und Bewertung von Rückstellungen und notwendige Wertberichtigungen ergeben.
Tz. 60
Mit der Voraussetzung der positiven Fortführungsprognose öffnet IAS 1.25 bei Abkehr vom going concern sämtliche Standards für Abweichungen. Er schreibt vor, bei negativer Fortführungsprognose von den einzelnen Standards abzuweichen und die stattdessen angewendeten anderen Rechnungslegungsmethoden im Anhang offenzulegen. IAS 1.25 regelt nicht, welche Methoden stattdessen anzuwenden sind. Die Abkehr vom going concern bildet damit einen der seltenen Anwendungsfälle (extremely rare circumstances) der IAS 8.10 und IAS 1.19, die einen Rückgriff auf die im Rahmenkonzept formulierten Rechnungslegungsprinzipien erlauben. Der IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung: Auswirkungen einer Abkehr von der Going-concern-Prämisse auf den handelsrechtlichen Jahresabschluss (IDW RS HFA 17) liegen die Prinzipien der handelsrechtlichen GoB zugrunde. Sie kann wegen der unterschiedlichen Wertungen der handelsrechtlichen GoB und der IFRS für den IFRS-Abschluss nicht insgesamt analog herangezogen werden. Sie enthält aber rechtsvergleichend Hinweise auf eine zutreffende Bilanzierung.
Wie nach den handeslrechtlichen GoB wirkt sich auch nach IFRS die Abkehr vom going concern auf die Bewertungsmaßstäbe aus. Grundsätzlich sind sämtliche Vermögensgegenstände bei negativer Fortführungsprognose mit ihrem Veräußerungswert am Bilanzstichtag anzusetzen. Diese generell einleuchtende Folgerung steht unter einem bedeutsamen Vorbehalt. Insbesondere bei größeren Unternehmungen, die bei der IFRS-Bilanzierung die Mehrheit bilden dürften, sind nicht immer sämtliche Teile eines Unternehmens von der negativen Fortführungsprognose erfasst. Daher kann es erforderlich sein, das Unternehmen in selbstständige Teilbetriebe aufzuteilen und nur die Vermögensgegenstände mit Zerschlagungswerten anzusetzen, die einem Teilbetrieb zuzordnen sind, für den die Fortführungsprognose negativ ausfällt. Der damit verbundene Mehraufwand ist mit den Bewertungsprinzipien der Entscheidungsnützlichkeit und Wirtschaftlichkeit abzuwägen. Diese Abwägung kann ergeben, dass wegen fehlender Entscheidungsnützlichkeit einer unterschiedlichen Bewertung der Vermögensgegenstände verschiedener Unternehmensteile einheitlich Zerschlagungswerte angesetzt werden.
Zeichnet sich ab, dass das ganze Unternehmen geschlossen veräußert werden kann (Unternehmensveräußerung im Ganzen), um vom Erwerber fortgeführt zu werden, sind die zu übertragenden Vermögensgegenstände mit dieser positiven Fortführungsprognose zu bewerten.