Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 550
Rückstellungen sind beim erstmaligen Ansatz mit dem bestmöglichen Schätzwert (best estimate) der Ausgaben anzusetzen, die zum Abschlussstichtag zur Erfüllung der zugrunde liegenden Verpflichtung notwendig sind (IAS 37.36). Der Erfüllungsbetrag (expenditure required to settle) entspricht dabei dem geschätzten Betrag, den das Unternehmen bei vernünftiger kaufmännischer Betrachtung zur Begleichung (payment) der Verpflichtung am Abschlussstichtag oder zu ihrer Übertragung (transfer) auf einen externen Dritten – man spricht dann vom Entpflichtungsbetrag – zu diesem Zeitpunkt aufbringen müsste. Auch wenn es oft kaum möglich oder übermäßig teuer sein dürfte, eine Verpflichtung zum Abschlussstichtag zu begleichen oder auf einen externen Dritten zu übertragen, stellt die entsprechende Schätzung des Unternehmens nach Ansicht des IASB trotzdem den bestmöglichen Wert für den Rückstellungsansatz dar (IAS 37.37).
Tz. 551
Die Schätzung des Rückstellungsbetrags obliegt dem Management des Unternehmens, weshalb die Wertermittlung regelmäßig ermessensbehaftet (management judgement) ist. Für diese Vorgehensweise wird z. T. auch der Begriff des management approach verwendet. Nach dem management approach orientiert sich die externe Berichterstattung eines Unternehmens an den intern für Führungs- und Steuerungszwecke verwendeten Strukturen. Dabei sollen folgende Aspekte Berücksichtigung finden, die der Informationsvermittlung nach dem management approach zugrunde liegen:
- die Vermittlung der Sichtweise der Unternehmensleitung sowie
- die Verwendung von Daten für Bilanzierung, Bewertung und Berichterstattung, die unternehmensintern für Steuerungszwecke verwendet werden.
Die Rechtfertigung hierfür wird darin gesehen, dass gerade das Management aufgrund seiner Führungsaufgaben und der Kenntnisse über die Geschäftstätigkeit des Unternehmens die Einschätzung wirtschaftlicher Sachverhalte und ihrer Folgen am besten vornehmen kann.
Im Zusammenhang mit der Ermittlung der Wertansätze weist IAS 37.38 explizit darauf hin, dass auch Erfahrungswerte (experience) aus ähnlichen Transaktionen zu berücksichtigen sind. Eine Pflicht zur Einbeziehung von Gutachtermeinungen existiert nicht, das IASB verweist jedoch auf die Möglichkeit, auch Gutachten unabhängiger Sachverständiger (independent experts) in den Wertermittlungsprozess einzubeziehen.
Tz. 552
Zudem stellt IAS 37.38 klar, dass bestimmte Ereignisse nach dem Abschlussstichtag (additional evidence provided by events after the reporting period) ebenfalls substanzielle Hinweise im Rahmen der Wertermittlung liefern können. Dabei wird zwischen werterhellenden und wertbegründenden Ereignissen unterschieden. Als werterhellend wird ein Ereignis bezeichnet, welches sich auf einen Geschäftsvorfall bezieht, der sich schon vor dem Abschlussstichtag ereignet hat und dem Management Informationen vermittelt, die die Beurteilung des Geschäftsvorfalls beeinflussen. Der Werterhellungszeitraum erstreckt sich vom Abschlussstichtag bis zu dem Tag, an dem der Abschluss zur Veröffentlichung genehmigt wird (IAS 10.3). Im Gegensatz dazu gilt ein Ereignis als wertbegründend, wenn es sich auf einen Geschäftsvorfall bezieht, der sich erst nach dem Abschlussstichtag ereignet hat. Während werterhellende Ereignisse in die Rückstellungsbewertung einbezogen werden, bleiben wertbegründende Ereignisse nach dem Abschlussstichtag im Abschluss des Berichtsjahres unberücksichtigt.
BEISPIEL
Die XY GmbH hat am 20.12.2014 eine Warenlieferung getätigt. Die gelieferten Waren waren fehlerhaft, was dem Management der XY GmbH zum Abschlussstichtag nicht bekannt war. Am 30.01.2015 – noch vor der Genehmigung zur Veröffentlichung des Abschlusses – reklamiert der Kunde die gelieferten Waren und macht Schadensersatzansprüchen geltend.
Die Kundenreklamation stellt ein werterhellendes Ereignis dar. Da die Warenlieferung, die den Schadensersatzanspruch des Kunden begründet, bereits vor dem Abschlussstichtag erfolgt ist und das Management noch vor der Genehmigung zur Veröffentlichung des Abschlusses von der Fehlerhaftigkeit der Waren Kenntnis erlangt hat, ist eine entsprechende Rückstellung im Abschluss des Geschäftsjahres 2014 zu bilden.
Tz. 553
IAS 37 unterscheidet hinsichtlich des Umgangs mit Bewertungsunsicherheiten danach, ob es sich bei der zugrunde liegenden Verpflichtung um eine Einzelverpflichtung oder eine Massenverpflichtung handelt.
Eine Einzelverpflichtung wird nach IAS 37.39 i. d. R. anhand des wahrscheinlichsten Ergebnisses (most likely outcome) bewertet. Damit bezieht der Standardsetzer auch in die Bewertung den Wahrscheinlichkeitsbegriff ein. Entsprechend erfolgt die Bewertung einer unsicheren Verpflichtung grundsätzlich mit dem Betrag, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit höher ist als die für alle möglichen alternativen Wertansätze. Die Eintrittswahrscheinlichkeit muss demnach nicht höher als 50 % liegen, sondern muss lediglich die aller anderen Alternativbeträge übersteigen. Ist für alle Werte innerhalb ein...