Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 20
Der Zeitpunkt einer bilanzrechtlichen Bewertung ist grds. der Stichtag. Vermögensgegenstände und Schulden sind "zum Abschlussstichtag einzeln zu bewerten" (§ 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB). Aus dieser Formulierung und dem Umstand, dass die Bilanz nicht "am", sondern "für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres" aufzustellen ist, folgt ein Verbot der Berücksichtigung von Tatsachen, die erst nach dem Abschlussstichtag entstanden sind, und zugleich ein Gebot der Berücksichtigung solcher Tatsachen, die vor dem Abschlussstichtag entstanden sind ("wertbeeinflussende Umstände"). Problematisch ist aber der Umgang mit Tatsachen, die zwar erst nach dem Stichtag bekannt geworden sind, ihren Entstehungsgrund aber möglicherweise noch in der abgelaufenen Berichtsperiode haben. Die Vorschrift des § 252 Abs. 1 Satz 4 HGB spricht nicht nur davon, dass "alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen" sind, sondern konkretisiert dies mit den Worten: "selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekanntgeworden sind." Das Gesetz bestimmt damit also, inwiefern Umstände, die erst nach dem Bilanzstichtag, aber vor der "Bilanzaufstellung" bekannt geworden sind, berücksichtigt werden müssen (sogenanntes Wertaufhellungsprinzip), wobei statt dem Tag der Aufstellung nach herrschender und überzeugender Auffassung jener der Feststellung maßgeblich ist, sofern beide voneinander abweichen (zur Begründung sogleich unter "Wertaufhellungszeitraum"). Es sind mithin allein solche nachträglich bekannt gewordenen Erkenntnisse und Ereignisse auf den Bilanzstichtag zurückzubeziehen, die zeigen, "wie sich die Verhältnisse am Bilanzstichtag tatsächlich dargestellt haben". Nicht berücksichtigt werden dürfen hingegen Erkenntnisse und Ereignisse, die zeigen, wie sich die Vermögenslage nach dem Stichtag verändert hat. "Das Wertaufhellungsprinzip soll das Stichtagsprinzip mithin lediglich dahingehend präzisieren, dass die Beurteilung der Stichtagsverhältnisse nicht aus dem Blickwinkel des Bilanzstichtages, sondern aus der Sicht des Aufstellungstages zu erfolgen hat." Es wird jedoch darum gestritten, ob die Bilanz zum Abschlussstichtag auf die objektiv vorliegenden Umstände zu beziehen ist, oder ob es auf die subjektive Beurteilung des Bilanzierenden ankommt. Dazu werden zwei Auffassungen vertreten, die als objektive Wertaufhellungskonzeption einerseits und als subjektive Wertaufhellungskonzeption andererseits bezeichnet werden können.
Tz. 21
Nach der subjektiven Wertaufhellungskonzeption ist so zu bilanzieren, als sei die Bilanz bereits am Abschlussstichtag selbst erstellt worden. Was am Abschlussstichtag vom Bilanzierenden über die dann gegebenen Vermögensverhältnisse nicht erkennbar war, bleibt unberücksichtigt.
Demgegenüber ist nach der objektiven Wertaufhellungskonzeption der Kenntnisstand des Bilanzierenden am Tag der "Bilanzaufstellung" auf die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse zu beziehen. Folglich sind auch solche Informationen, die der Bilanzierende erst nach dem Abschlussstichtag und während der Bilanzerstellung erlangt hat oder aber bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erlangen können, immer dann wertaufhellend bei der Bilanzaufstellung zu berücksichtigen, wenn sie für die Verhältnisse am Bilanzstichtag von Bedeutung sind.
Tz. 22
Um die unterschiedlichen Auswirkungen der vorstehend genannten Auffassungen verdeutlichen zu können, sind zunächst zwei Problemkreise auseinander zu halten:
- Es ist zu klären, wie lang der Wertaufhellungszeitraum dauert. Es bedarf also einer Festlegung, wann er beginnt und wann er endet.
- Es ist zu klären, worin die Unterschiede der objektiven und der subjektiven Wertaufhellungskonzeption bestehen.
Tz. 23
Wertaufhellungszeitraum
Das Gesetz spricht davon, dass alle Umstände zu berücksichtigen sind, "selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung bekanntgeworden sind". Unzweifelhaft beginnt der Wertaufhellungszeitraum nach dieser Formulierung mit dem Tag nach dem Stichtag (im Falle eines kalendergleichen Geschäftsjahres als am 01.01. um 0:00 Uhr). Problematisch ist hingegen, wann der Wertaufhellungszeitraum endet. Das Gesetzt rekurriert auf den Tag der Aufstellung der Bilanz, der deshalb nach der Auffassung einiger Autoren das Ende des Wertaufhellungszeitpunktes markieren soll. Demgegenüber wird aber auch der Zeitpunkt der Bilanzfeststellung für maßgeblich gehalten. Wieder andere stellen auf den Zeitpunkt ab, zu dem die Abschlussprüfung beginnt, sofern sie erforderlich ist. Teilweise wird vertreten, das Ende des Wertaufhellungszeitraums sei sachverhaltsabhängig.
Maßstab ist zunächst der Wortlaut des Gesetzes. Gem. § 264 Abs. 1 Satz 3 HGB sind die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften verpflichtet, die Aufstellung innerhalb von 3 Monaten nach dem Stichtag vorzunehmen. Daraus wird teilweise gefolgert, dass ...