Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 596
§ 254 Bildung von Bewertungseinheiten
Werden Vermögensgegenstände, Schulden, schwebende Geschäfte oder mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartete Transaktionen zum Ausgleich gegenläufiger Wertänderungen oder Zahlungsströme aus dem Eintritt vergleichbarer Risiken mit Finanzinstrumenten zusammengefasst (Bewertungseinheit), sind § 249 Abs. 1, § 252 Abs. 1 Nr. 3 und 4, § 253 Abs. 1 Satz 1 und § 256a in dem Umfang und für den Zeitraum nicht anzuwenden, in dem die gegenläufigen Wertänderungen oder Zahlungsströme sich ausgleichen. Als Finanzinstrumente im Sinn des Satzes 1 gelten auch Termingeschäfte über den Erwerb oder die Veräußerung von Waren.
1. Einleitung
a) Überblick
Tz. 597
Die Vorschrift normiert die Bilanzierung von Bewertungseinheiten (auch als kompensatorische Bewertung bezeichnet). Die Abbildung von Bewertungseinheiten in der Bilanz dient der besseren Darstellung von Geschäften, deren Chancen und Risiken sich ausgleichen. Unternehmen sichern insbesondere Währungs-, Zins- und Preisrisiken häufig bewusst ab, indem sie Geschäfte mit gegenläufigen Risiken eingehen. Aufgrund des Einzelbewertungs-, Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzips ist es aber bilanzrechtlich nicht ohne Weiteres möglich, diese Geschäfte einheitlich zu bewerten und zusammenhängend darzustellen. Deshalb war bereits vor Schaffung einer ausdrücklichen Regelung für Bewertungseinheiten anerkannt, dass deren faktische Bildung eine Ausnahme von den genannten Gründen gem. § 252 Abs. 2 HGB rechtfertigen kann und daher ihre bilanzielle Erfassung möglich ist. Steuerrechtlich waren sie ebenfalls schon früher vorgesehen (§ 5 Abs. 1a EStG). Diese Entwicklung hat der Gesetzgeber mit § 254 HGB nachvollzogen. Änderungen der bisherigen Bilanzierungspraxis sind nicht intendiert, die Vorschrift soll diese Praxis lediglich rechtlich nachvollziehen.
b) Entstehungsgeschichte
Tz. 598
Die Normierung erfolgte im Zuge des BilMoG 2009. Zuvor enthielt § 254 HGB Regelungen zur Übernahme steuerrechtlich vorgesehener Abschreibungen in die Handelsbilanz, die im Zuge der überfälligen Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit aufgehoben wurden. Entscheidend für die Aufnahme der Neuregelung war insbesondere, dass Bewertungseinheiten in den IAS/IFRS schon lange institutionalisiert sind. Insofern sollte mit diesem Schritt eine Annäherung an die internationale Rechnungslegungspraxis vollzogen werden, ohne dabei Grundprinzipien das HGB-Bilanzrechts vollständig aufzugeben. Daher sind die Möglichkeiten zur bilanziellen Anerkennung von Bewertungseinheiten nach HGB im Vergleich mit IAS 39 eingeschränkt. Europarechtlich sind Bewertungseinheiten weder in der alten noch in der neuen Bilanzrichtlinie vorgesehen. Die Einführung der Regelung wurde auf Art. 2 Abs. 5 Satz 3 der alten Bilanzrichtlinie gestützt, wonach Mitgliedstaaten Ausnahmen von den Vorgaben der Richtlinie zulassen können, wenn diese der Darstellung einem tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage entgegenstehen. Eine entsprechende Regelung enthält auch die neue EU-Bilanzrichtlinie in Art. 4 Abs. 3.
c) Geltungsbereich
Tz. 599
Die Vorschrift gilt für alle bilanzierungspflichtigen Kaufleute. Sie ist in der geltenden Fassung gem. Art. 66 Abs. 3 EGHGB zwingend anzuwenden auf alle Geschäftsjahre, die nach dem 31.12.2009 beginnen. Eine frühere Anwendung ist gem. Art. 66 Abs. 3 Satz 6 zulässig.
d) Rechtspolitische Diskussion und Entwicklungsperspektiven
Tz. 600
§ 254 HGB ist als offener Tatbestand konzipiert, der nicht näher regelt, welche Voraussetzung eine Bewertungseinheit haben muss. Mit der Vorschrift intendiert der Gesetzgeber, der bestehenden Praxis ein rechtliches Fundament zu geben. Diese Praxis orientiert sich u. a. an den Vorgaben der IFRS, weshalb die internationalen Standards in Fragen der Sicherungsbilanzierung besonderen Einfluss gewinnen. Insofern sind auch Änderungen, die das IASB in diesem Regelungskomplex vornimmt, eine potenzielle Triebfeder für Veränderungen der Sicherungsbilanzierung im deutschen Bilanzrecht. Mit IFRS 9 liegt seit November 2013 ein Standard vor, der ab 1. Januar 2018 für IFRS-Rechnungsleger gelten soll. Angestrebt wird mit der Neuregelung insbesondere eine engere Verknüpfung von Risikomanagement und hedge accounting. Der Einfluss dieser Neuregelung auf die Bilanzierungspraxis bleibt zu beobachten und ihre Vereinbarkeit mit § 254 HGB sodann zu prüfen.
2. Erläuterung
a) Begriff der Bewertungseinheiten
Tz. 601
Bewertungseinheiten liegen vor, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung bestimmte Risiken aus einem Grundgeschäft durch den Einsatz von Sicherungsinstrumenten neutralisiert werden. Soweit und solange der Eintritt dieser Risiken ausgeschlossen ist, weil nicht realisierte Gewinne in gleicher Höhe bestehen, erklärt die Norm die §§ 249 Abs. 1, 252 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4, 253 Abs. 1 Satz 1 und 256a HGB für unanwendbar.
b) Pflicht oder Wahlrecht zur Bildung von Bewertungseinheiten?
Tz. 602
Umstritten ist, ob die Vorschrift ein Wahlrecht normiert. Man wird dabei drei Fragen – oft ist nur von zwei Fragen ...