Entscheidungsstichwort (Thema)
Form und Frist des Wahlanfechtungsantrags des Arbeitgebers gegen die für ein Liefergebiet durchgeführte Betriebsratswahl
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Frist für die Wahlanfechtung nach § 19 Abs. 2 BetrVG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, innerhalb derer, vergleichbar mit § 4 KSchG, die jeweilige "Gegenseite" auf die offene Rechtslage hingewiesen werden soll. Es soll kurzfristig Klarheit darüber herbeigeführt werden, ob die Wahl angegriffen wird. Diese Funktion ist auch dann erfüllt, wenn Klarheit über die Frage, ob der Antrag wirksam gestellt wurde, erst später geschaffen wird.
2. Ein zur Anfechtungeiner Betriebsratswahl berechtigender Fehler liegt vor, wenn bei der Wahl der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff verkannt wurde. Betriebsratsfähige Organisationseinheiten liegen danach nur dann vor, wenn es sich bei den Einrichtungen um Betriebe i.S.v. § 1 BetrVG, um selbständige Betriebsteile nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG oder um betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten i.S.v. § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG handelt.
3. Fehlt ein eigener Leitungsapparat, der für die Organisationseinheit die maßgeblichen mitbestimmungsrelevanten Entscheidungen einheitlich trifft, kann die besagte Organisationseinheit nur Teil eines Betriebs, nicht aber selbst Betrieb i.S.d. § 1 Abs. 1 BetrVG sein.
4. Aber auch ein Betriebsteil- und nicht nur ein unselbständiger Teil einer anderen betrieblichen Einheit - liegt nur vor bei einem Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb. Daran fehlt es indes, wenn es keine konkrete Person oder Gruppe gibt, die bezogen auf die Beschäftigten in dem Gebiet, für das der Betriebsrat gewählt wurde, mit Leitungsfunktionen ausgestattet ist und diese gegenüber den dort Beschäftigten ausübt. Allein auf die Entfernung einer Organisationseinheit zum Hauptbetrieb kann jedenfalls nicht abgestellt werden.
Normenkette
BetrVG § 19 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 05.01.2024; Aktenzeichen 18 BV 1/23) |
Tenor
Die Beschwerde des Beteiligten zu 2. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom 5. Januar 2024, Az. 18 BV 1/23, wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren noch über die Wirksamkeit einer für das Liefergebiet B2 durchgeführten Betriebsratswahl, aus der der Beteiligte zu 2. hervorgegangen ist.
Die Beteiligte zu 1. (im Folgenden Arbeitgeberin) gehört zur "J. com"-Unternehmensgruppe, die Dienstleistungen im Bereich der Bestellung und Lieferung von Essen über Restaurants an Kunden anbietet. Kunden können über eine App oder eine Website Essen bei verschiedenen Restaurants bestellen, welches u.a. durch Fahrer der Arbeitgeberin ausgeliefert wird. Sitz der Arbeitgeberin ist B1. Beteiligter zu 2. ist der von den im Liefergebiet B2 tätigen Auslieferungsfahrern der Arbeitgeberin gewählte Betriebsrat (im Folgenden Betriebsrat B2).
Am Unternehmenssitz in B1 unterhält die Arbeitgeberin ihre Zentrale. Dort sind Zentralfunktionen wie der für die Fahrer zuständige Personalbereich (Courier HR, Recruiting, Live Operations) sowie weitere Fachabteilungen angesiedelt. In größeren Städten wie in H1 unterhält die Arbeitgeberin Hauptumschlagbasen (Hub). In diesen sog. "Hub-Cities", so auch in H1, hält die Arbeitgeberin ein Büro und Sozialeinrichtungen vor, von dort aus werden Verwaltungs- und Backoffice-Tätigkeiten u.a. von sog. Courier Coordinatoren ausgeführt. Die Courier-Koordinatoren werden bei Bedarf von den Fachabteilungen in B1 unterstützt. Standortleiterin der Hub H1 und Vorgesetzte der Courier Coordinatoren war bis Mitte 2024 die City Operation Managerin Frau A. Mit e-Mail vom 3. Juli 2024 (Anlage Neu B, Blatt 1183 d.A. LAG) an den Betriebsrat B2 teilte die Arbeitgeberin das Ausscheiden von Frau A. mit und die interimsweise Betreuung des Liefergebiets B2 durch Herr M. S., Senior COM aus Stuttgart.
Neben den Hub-Cities gibt es sog. "Remote-Cities", zu denen B2 gehört. In den Remote-Cities werden ausschließlich Auslieferungsfahrer beschäftigt.
Zunächst bestand bei der Arbeitgeberin ein Betriebsrat Nord, der für die Liefergebiete/Standorte H1, K., B2, H2, G und B3 gewählt worden war. Dieser Betriebsrat trat am 7. Juli 2022 zurück und bestellte am selben Tag u.a. einen Wahlvorstand für eine Betriebsratswahl für das Liefergebiet B2. Dieser Wahlvorstand forderte die Arbeitgeberin mit EMail vom 11. Oktober 2022 (Anlage 1, Bl. 849 f. d.A. ArbG) zur Erteilung von Auskünften auf. In der E-Mail heißt es u.a.:
1. Der Wahlvorstand B2 beschließt in seiner Sitzung vom 11.10.22 den Arbeitgeber aufzufordern, die Wähler*innen Liste für B2 zur Verfügung zu stellen [...].
2. ...
3. Der Wahlvorstand B2 beschließt in seiner Sitzung vom 11.10.22 den Arbeitgeber aufzufordern, einen Mailverteiler für die wahlberechtige Belegschaft des Betriebs B2 einzurichten und dem Wahlvorstand zur Verfügung zustellen [...].
Die Arbeitgeberin übermittelte die erfragte List...