Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbeschwerde. Rechtsbeschwerdeerstreckung. Revisionserstreckung. Rechtskraft. Rechtskraftdurchbrechung. Mitbetroffene. Mitbetroffener. Sachrüge. Tatgericht. Urteilsgründe. Gesamtschau. Feststellungen. Mindestfeststellungen. Tatgeschehen. Darstellungsmangel. Beweiswürdigung. Urteilsaufhebung. Schulpflicht. Schulpflichtverletzung. Sorgetragen. Obliegenheit. Obliegenheitsverletzung. Unterricht. Präsenzunterricht. Corona. Testung. Testobliegenheit. Erziehungsberechtigte. Eltern. Kinder. minderjährig. Handlungsmöglichkeiten. Erziehung. erzieherisch. Erziehungsberatung. Erziehungsberatungsstelle. Jugendamt. Einwirkung. Einwirkungsgrad. pädagogisch. Hilfe. Feststellungsanforderungen an Verurteilung wegen Schulpflichtverletzung. Rechtsbeschwerdeerstreckung auf Mitbetroffene
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verurteilung eines Erziehungsberechtigten wegen der Verletzung der bußgeldbewehrten Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass minderjährige Schulpflichtige regelmäßig am Unterricht teilnehmen (Art. 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG), leidet unter grundlegenden Darstellungsmängeln, wenn tatsächliche Feststellungen dazu, in welchem konkreten Verhalten oder Unterlassen des Betroffenen das Tatgericht die Ordnungswidrigkeit erblickt, unterbleiben.
2. Im Falle eines Unterlassens hat das tatrichterliche Urteil grundsätzlich erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten, die nicht ergriffen wurden, aufzuzeigen.
Normenkette
BayEUG Art. 74 Abs. 2 S. 1, Art. 76 S. 2, Art. 119 Abs. 1 Nr. 2; StPO § 267 Abs. 1, 3, § 344 Abs. 2 S. 2, § 349 Abs. 2, §§ 353, 357 S. 1; OWiG §§ 71, 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80a Abs. 1
Verfahrensgang
AG Würzburg (Entscheidung vom 04.08.2022) |
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Würzburg vom 4. August 2022, auch soweit es die Mitbetroffene betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
II.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Würzburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 04.08.2022 hat das Amtsgericht den Betroffenen sowie die selbst nicht rechtsmittelführende Mitbetroffene und Ehefrau des Betroffenen jeweils wegen vorsätzlicher Verletzung der ihnen als Erziehungsberechtigte und Eltern gemäß Art. 74 Abs. 2 Satz 1, 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG obliegenden Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihr am 02.02.2012 geborener gemeinsamer minderjähriger schulpflichtiger Sohn am Unterricht regelmäßig teilnimmt und die sonstigen verbindlichen Schulveranstaltungen besucht, jeweils zu einer Geldbuße in Höhe von 500 Euro verurteilt. Da die Mitbetroffene gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist das Urteil gegen diese seit dem 19.08.2022 rechtskräftig. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige, gemäß § 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 357 Satz 1 StPO auf die Mitbetroffene zu erstreckende Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Rechtsmittel führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen, an durchgreifenden sachlich-rechtlichen Darstellungsmängeln leidenden Urteils. Auf die mangels hinreichender Ausführung die Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verfehlende Verfahrensrüge kommt es deshalb nicht an.
1. Wenn auch für das Bußgeldverfahren im Hinblick auf die gegenüber dem Strafverfahren gemilderte "Strenge des anzuwendenden Maßstabs" (vgl. z.B. BVerfG [2. Kammer des 2. Senats], Beschl. v. 02.07.2003 - 2 BvR 273/03 bei juris; s. auch BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschl. v. 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 = NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41 = DAR 2021, 75) entsprechend seinem auf einfache und schnelle bzw. "summarische" Erledigung gerichteten Zweck hinsichtlich der Abfassung der Urteilsgründe ,keine übertrieben hohen Anforderungen' zu stellen sind, kann doch für den Inhalt des Erkenntnisses in Bußgeldsachen wie für das Verfahren selbst im Grundsatz nichts anderes als für Urteile in Strafsachen gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren bilden die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Sie müssen deshalb auch in Bußgeldsachen nach § 71 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 und Abs. 3 StPO so beschaffen sein, dass ihnen das Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen der Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen das Tatgericht zu den objektiven und subjektiven Tatbestandselementen getroffen hat und welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen etwaiger Nebenfolgen zugrunde liegen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbesch...