Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbehelfsverfahren gegen Asylantragsentscheidung. Zulässige Aufrechterhaltung der Sicherungshaft. Aufenthaltsgestattung. Asylverfahrensrichtlinie 2005/85/EG v. 01.12.2005
Leitsatz (amtlich)
Aus der Regelung in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. EG Nr. L 326, 13) folgt nicht, dass der Aufenthalt eines Asylbewerbers auch während eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Entscheidung über seinen Asylantrag ausnahmslos als rechtmäßig anzusehen wäre.
Normenkette
Richtlinie 2005/85/EG Art. 7 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2005-12-01
Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Entscheidung vom 17.10.2011; Aktenzeichen 4 T 406/11) |
AG Wiesbaden (Beschluss vom 10.09.2011; Aktenzeichen 710 XIV 602/11) |
Tenor
Dem Betroffenen wird - unter Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. Ackermann - Verfahrenskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren bewilligt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels - festgestellt, dass der Beschluss des AG Wiesbaden vom 10.9.2011 ihn in seinen Rechten verletzt hat.
Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Landeshauptstadt Wiesbaden zu 50 % auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht statt. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger und reiste Anfang September 2011 mit Hilfe von Schleusern gegen Zahlung von 5.000 EUR nach Deutschland ein, ohne im Besitz eines Passes und Aufenthaltstitels zu sein. Er wurde am 9.9.2011 in Wiesbaden festgenommen.
Rz. 2
Auf Antrag des Beteiligten zu 2) hat das AG mit Beschluss vom 10.9.2011 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung in die Türkei bis einschließlich 9.12.2011 angeordnet.
Rz. 3
Während des gegen die Haftanordnung gerichteten Beschwerdeverfahrens stellte der Betroffene einen Asylantrag, der am 12.9.2011 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) einging. Mit Bescheid vom 6.10.2011 lehnte das Bundesamt den Antrag als offensichtlich unbegründet ab und forderte den Betroffenen auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht. Gegen die Entscheidung des Bundesamts erhob der Betroffene am 13.10.2011 Klage bei dem VG und stellte einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Rz. 4
Das LG hat die Beschwerde gegen die Haftanordnung nach Anhörung des Betroffenen zurückgewiesen.
Rz. 5
Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er nach der am 23.11.2011 erfolgten Abschiebung die Feststellung, dass er durch die Haftanordnung und ihre Aufrechterhaltung in seinen Rechten verletzt worden ist.
II.
Rz. 6
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts stand der Asylantrag der Aufrechterhaltung der Sicherungshaft nicht entgegen, weil sich der Betroffene im Zeitpunkt der Antragstellung in Sicherungshaft befunden habe. Die illegale Einreise mit Hilfe von Schleusern und die hierfür aufgewendeten nicht unerheblichen finanziellen Mittel hätten den Verdacht begründet, dass sich der Betroffene der Abschiebung habe entziehen wollen. Seine Bekundung, er werde im Fall der Zurückweisung des Asylantrags freiwillig in die Türkei zurückkehren, sei nicht glaubhaft. Die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG habe der Aufrechterhaltung der Sicherungshaft nicht entgegengestanden. Die Haftdauer von drei Monaten sei verhältnismäßig gewesen. Aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Ausweises (Nüfus) sei davon auszugehen gewesen, dass der Betroffene innerhalb der angeordneten Haftdauer in die Türkei habe zurückgeschoben werden können.
III.
Rz. 7
Die hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand.
Rz. 8
Die ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthafte (vgl. nur BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, FGPrax 2010, 154, 155 Rz. 6; insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 184, 323) und auch im Übrigen nach § 71 FamFG zulässige Rechtsbeschwerde ist zum Teil begründet. Die Entscheidung des AG hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.
Rz. 9
1. Wegen Fehlens einer den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG entsprechenden Antragsbegründung hätte die Haft nicht angeordnet werden dürfen. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rz. 12; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 7).
Rz. 10
a) Der Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rz. 14; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 8). So verhält es sich hier.
Rz. 11
b) Bei einer beabsichtigten Abschiebung muss die Behörde in dem Haftantrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG die Vollstreckungsvoraussetzungen darlegen, zu denen die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG a.F. gehört (Senat, Beschl. v. 28.4.2011 - V ZB 252/10, juris Rz. 16). Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf auch eine kraft Gesetzes (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F.) vollziehbare Ausreisepflicht nicht durch eine Abschiebung durchgesetzt werden (Senat, Beschl. v. 28.4.2011 - V ZB 252/10, juris Rz. 16). Dies hat die Beteiligte zu 2) nicht berücksichtigt. Sie hat nur die Tatsachen für die Begründung der vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen vorgetragen. Das mag für einen Antrag auf Anordnung der Haft zur Sicherung einer Zurückschiebung i.S.d. § 58 AufenthG a.F. ausreichen. Eine Zurückschiebung des Betroffenen war aber nach dem eindeutigen Inhalt des Haftantrags nicht dessen Gegenstand.
Rz. 12
c) An der Unzulässigkeit des Haftantrags im Zeitpunkt der Haftanordnung ändert der Umstand nichts, dass im Laufe des Beschwerdeverfahrens durch den Bescheid des Bundesamts vom 6.10.2011 der Antrag des Betroffenen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet abgelehnt und er aufgefordert wurde, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen sowie ihm für die Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in die Türkei angedroht wurde. Damit fehlte es zwar nicht mehr an den Vollstreckungsvoraussetzungen für die beabsichtigte Abschiebung. Ein unzulässiger Haftantrag und die damit einhergehende Verletzung des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kann aber in der Beschwerdeinstanz nicht rückwirkend geheilt werden (BGH, Beschl. v. 15.9.2011 - V ZB 136/11, FGPrax 2011, 318 Rz. 8; Beschl. v. 7.4.2011 - V ZB 133/10, juris Rz. 7; Beschl. v. 21.10.2010 - V ZB 96/10, juris Rz. 14; Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rz. 19).
Rz. 13
2. Im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung war der ursprüngliche Begründungsmangel für die Zukunft geheilt (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.2011 - V ZB 173/11, NJW 2011, 3792, 3793 Rz. 4), weil der Beteiligte zu 2) den Bescheid des Bundesamts vom 6.10.2011 dem Beschwerdegericht vorgelegt hatte; hierzu konnte der Betroffene in der Anhörung Stellung nehmen (vgl. BGH, Beschl. v. 15.9.2011 - V ZB 136/11, FGPrax 2011, 318 Rz. 8; Beschl. v. 3.5.2011 - V ZA 10/11, juris Rz. 11).
Rz. 14
3. Der von dem Betroffenen gestellte Asylantrag stand der Aufrechterhaltung der Haft nicht entgegen. Zwar ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Diese Aufenthaltsgestattung war aber im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nach der Vorschrift des § 67 Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG erloschen, weil die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamts vollziehbar war. Der Bescheid wurde dem Betroffenen nach dem Inhalt der von ihm in der Anhörung vor dem Beschwerdegericht übergebenen Abschrift seiner Klageschrift an das VG am 7.10.2011 zugestellt, so dass die dem Betroffenen durch das Bundesamt gesetzte Ausreisefrist vor der Beschwerdeentscheidung am 17.10.2011 abgelaufen war. Die verwaltungsgerichtliche Klage des Betroffenen gegen die Entscheidung des Bundesamts und sein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO änderten hieran nichts. Erst wenn einem solchen Antrag oder der Klage stattgegeben wird, wirkt diese verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf den Zeitpunkt des Erlasses der Abschiebungsandrohung zurück mit der Folge, dass sie (vorläufig) nicht vollziehbar ist (Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 59 AufenthG, Rz. 43). So verhält es sich hier indes nicht. Feststellungen zu einer Entscheidung des VG, nach der die Anträge des Betroffenen erfolgreich waren, fehlen. Dies behauptet der Betroffene auch nicht.
Rz. 15
4. Das Beschwerdegericht hat das Vorliegen des Haftgrunds der Entziehungsabsicht (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG a.F.) rechtsfehlerfrei bejaht. Danach ist ein Ausländer in Sicherungshaft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Die Annahme einer Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insb. Äußerungen oder Verhaltensweisen des Ausländers voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahe legen, dass der Ausländer beabsichtigt unterzutauchen oder die Abschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (vgl. Senat, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 40/11, juris Rz. 6; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 28 Rz. 15; Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 202/09, juris Rz. 12). So lag es hier.
Rz. 16
a) Bei dem von dem Beschwerdegericht für maßgeblich erachteten Verhalten des Betroffenen, nämlich die unerlaubte Einreise nach Deutschland mit Hilfe von Schleusern gegen Zahlung von 5.000 EUR, kann es sich um solche Umstände handeln (BGH, Beschl. v. 10.2.2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130). Dem steht nicht entgegen, dass nach Auffassung der Rechtsbeschwerde Flüchtlinge, die in die Bundesrepublik einreisen, "fast regelmäßig auf die Inanspruchnahme von Fluchthelfern angewiesen seien, da es für sie keine legale Möglichkeit der Einreise gebe". Denn entscheidend für den Rückschluss, der Ausländer werde sich der Abschiebung entziehen, ist nicht die Inanspruchnahme von Schleusern, sondern die damit einhergehende Aufwendung erheblicher finanzieller Mittel, die der Ausländer im Fall der Abschiebung vergeblich aufgewendet hätte (BGH, Beschl. v. 10.2.2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130; BayObLG, InfAuslR 2001, 343, 344). Hieraus kann auf einen Anreiz des Ausländers geschlossen werden, sich nicht freiwillig für seine Abschiebung bereit zu halten, sondern den Verbleib in der Bundesrepublik durch ein Untertauchen zu sichern.
Rz. 17
b) Die tatrichterliche Schlussfolgerung auf die Entziehungsabsicht unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen eine solche Folgerung als möglich erscheinen lassen (BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 40/11, juris Rz. 7; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 28 Rz. 16; Beschl. v. 10.2.2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130). Mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, dass die Folgerungen des Tatrichters nicht zwingend seien oder dass eine andere Schlussfolgerung ebenso naheliege (BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 40/11, juris Rz. 7; Beschl. v. 10.2.2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130). Hieran gemessen ist die Würdigung des Beschwerdegerichts nicht fehlerhaft. Es hat auch den gegen die Entziehungsabsicht sprechenden Umstand, nämlich die Erklärung des Betroffenen in seiner Anhörung vor dem Beschwerdegericht, er werde im Fall der rechtskräftigen Zurückweisung seines Asylgesuchs freiwillig in die Türkei zurückkehren, berücksichtigt und ist zu einer hier von dem Rechtsbeschwerdegericht hinzunehmenden negativen Einschätzung für den Betroffenen gelangt.
Rz. 18
5. Die Regelungen der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EG Nr. L 348 vom 24.12.2008, S. 98; nachfolgend: Rückführungsrichtlinie) standen der Beschwerdeentscheidung ebenfalls nicht entgegen, unbeschadet der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein Betroffener auf einzelne Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie gegenüber einem Mitgliedstaat berufen kann, der diese innerhalb der in Art. 20 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie enthaltenen, am 24.12.2010 abgelaufenen Umsetzungsfrist nicht oder nur unzulänglich umgesetzt hat (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 28.4.2011 - Rs. C-61/11 PPU [El Dridi], InfAuslR 2011, 320, 322 Rz. 46; insoweit nicht abgedruckt in ABl. EU 2011, Nr. C 186, S. 8 f.). Im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung fehlte es nicht an einer Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie. Die Rückkehrentscheidung ist nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird. Der Bescheid des Bundesamts vom 6.10.2011 erfüllte diese Anforderungen.
Rz. 19
6. Ein Verstoß gegen die Regelung in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. EG Nr. L 326 vom 13.12.2005, S. 13; nachfolgend: Asylverfahrensrichtlinie) lag nicht vor. Zwar dürfen danach Antragsteller ausschließlich zum Zweck des Asylverfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde nach den in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Asylantrag entschieden hat. Hieraus folgt aber nicht, dass der Aufenthalt eines Asylbewerbers auch während eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Entscheidung über seinen Asylantrag ausnahmslos als rechtmäßig anzusehen wäre. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten nach der Regelung des Art. 39 Abs. 3 lit. a) und lit. b) der Asylverfahrensrichtlinie die Möglichkeit, national zu regeln, ob sich ein Asylbewerber während eines Rechtsbehelfsverfahrens in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten darf (Müller in HK-AuslR, § 75 AsylVfG, Rz. 1). Das deutsche Recht sieht keine "automatische" Aufenthaltsgestattung während des gegen den Bescheid des Bundesamts gerichteten Klageverfahrens vor. Vielmehr hat nach der Vorschrift des § 75 Satz 1 AsylVfG eine Klage gegen Entscheidungen nach dem Asylverfahrensrecht nur in den - hier nicht vorliegenden - Fällen des § 38 Abs. 1 AsylVfG und des § 73 AsylVfG eine aufschiebende Wirkung. Damit hatte die Klage des Betroffenen gegen den Bescheid des Bundesamts vom 6.10.2011 keinen Suspensiveffekt und damit keine aufenthaltsgestattende Wirkung. Dies galt jedenfalls so lange, wie das VG aufgrund des gleichzeitig gestellten Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage nicht angeordnet hatte.
Rz. 20
7. Die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft verstieß nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II S. 559). Zwar ist dort in Art. 31 Abs. 1 niedergelegt, dass die vertragschließenden Staaten wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen werden, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in welchem ihr Leben oder ihre Freiheit i.S.v. Art. 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. Die Vorschrift ist im Fall der Anordnung von Sicherungshaft aber schon deshalb nicht anwendbar, weil diese mangels Sanktionscharakter für begangenes Unrecht keine "Strafe" im Sinne dieser Vorschrift ist, sondern eine reine Präventivmaßnahme zur Durchsetzung der Ausreisepflicht (BayObLGReport 1998, 37, 38; BayObLG, Beschl. v. 10.5.1996 - 3Z BR 113/96, juris Rz. 11, insoweit nicht abgedruckt in BayObLGReport 1996, 55).
Rz. 21
8. Die Beschwerdeentscheidung hält rechtlicher Nachprüfung auch im Hinblick darauf stand, dass die Haft unzulässig ist, wenn feststeht, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG a.F.). Die Anforderungen an die hierfür erforderliche Prognose (vgl. Senat, Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, juris Rz. 22; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rz. 22) hat das Beschwerdegericht zwar nicht beachtet. Das hat sich aber nicht ausgewirkt.
Rz. 22
a) Hat der Ausländer zur Verhinderung der Abschiebung einstweiligen Rechtsschutz bei dem VG beantragt, setzt eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG a.F. voraus, dass der Haftrichter den Stand und den voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufklärt und bei seiner Entscheidung berücksichtigt (Senat, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 309/10, juris Rz. 19; BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 12/10, juris Rz. 8; Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rz. 24). Wird solchen Eilanträgen regelmäßig entsprochen, darf er, wenn die Sache bei dem VG anhängig gemacht worden ist, eine Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht anordnen (BGH, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 309/10, juris Rz. 19; Beschl. v. 6.5.2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510, 1511 Rz. 14). Dieser Aufklärungspflicht ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Allerdings führt das allein nicht zur Rechtswidrigkeit der aufrechterhaltenen Sicherungshaft. Vielmehr bedarf es der Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers i.S.d. § 72 Abs. 1 Satz 1 FamFG (Senat, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 309/10, juris Rz. 20; Beschl. v. 8.7.2010 - V ZB 203/09, juris Rz. 11). Daran fehlt es. Anders als in den von dem Senat entschiedenen Fällen, in denen Betroffene mit Eilanträgen bei den VG ihre Zurückschiebung etwa nach Griechenland verhindern wollten und diesen Anträgen durch die VG regelmäßig stattgegeben wurde (vgl. zuletzt Senat, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 12/10, juris Rz. 9 m.w.N.), legt die Rechtsbeschwerde eine solche Praxis der VG bei Eilanträgen, die sich gegen die Abschiebung in die Türkei richten, nicht dar. Hierfür ist auch nach dem zu berücksichtigenden späteren tatsächlichen Geschehensablauf, aus dem auf den mutmaßlichen Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden kann (vgl. Senat, Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, juris Rz. 19; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rz. 24), nichts ersichtlich.
Rz. 23
b) Dass das Beschwerdegericht nicht weiter aufgeklärt hat, in welchem Zeitraum nach Ausstellung des Nüfus mit der tatsächlichen Rückführung des Betroffenen in die Türkei üblicherweise gerechnet werden konnte, führt ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung. Der Betroffene wurde noch vor Ablauf der angeordneten dreimonatigen Haftdauer abgeschoben. Aus diesem Umstand kann auf den mutmaßlichen Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden. Eine solche Prognose hätte die Haft und deren Dauer gerechtfertigt (vgl. Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rz. 24).
IV.
Rz. 24
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Die Kostenquote entspricht dem Verhältnis des gesamten Zeitraums der Haft zu dem Zeitraum, für den das Rechtsmittel Erfolg hat.
Rz. 25
Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen
Haufe-Index 3131162 |
EBE/BGH 2012 |
FGPrax 2012, 223 |
InfAuslR 2012, 419 |
ZAR 2012, 400 |