Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruch auf rechtliches Gehör. Widerspruch zwischen erstinstanzlichem Urteil und Feststellungen des Berufungsgericht. Schadensersatz. Angebliche Falschberatung. Erwerb von L.-Zertifikaten. sog. allgemeines Emittentenrisiko. Vorherige Aufklärung. Vertrieb von Indexzertifikaten. Ausdrücklicher Hinweis auf Emittentenrisiko. Fehlende Vorkenntnisse
Leitsatz (amtlich)
Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei einem Widerspruch zwischen dem in Bezug genommenen Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils und den Feststellungen des Berufungsgerichts.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 314, 540 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
OLG Hamburg (Urteil vom 11.05.2011; Aktenzeichen 13 U 87/10) |
LG Hamburg (Entscheidung vom 23.04.2010; Aktenzeichen 313 O 144/09) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 13. Zivilsenats des OLG Hamburg vom 11.5.2011 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens zur Hälfte (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Hanseatischen OLG Hamburg vom 11.5.2011 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 45.725 EUR festgesetzt (Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin 22.861,79 EUR, Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten 22.863,21 EUR).
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin verlangt von der beklagten Bank Schadensersatz wegen angeblicher Falschberatung in Zusammenhang mit dem Erwerb von L.-Zertifikaten.
Rz. 2
Die Klägerin unterhielt bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit ca. 30 Jahren ein Girokonto. Wegen der von ihrem Stiefvater geschätzten Beratung durch den Mitarbeiter B. der Beklagten ließ sich die Klägerin seit 2003 ebenfalls von dem Berater B. betreuen. Ihr eigenes Depotvolumen betrug Ende 2003 ca. 123.000 EUR, das ihres Stiefvaters, den sie 2006 beerbte, weitere 350.000 EUR. Dort befanden sich u.a. 300 Stück En.-Aktien und 600 Stück E.-Aktien. Aufgrund eines seinem Inhalt nach im Einzelnen streitigen Telefonats Anfang Februar 2007 veräußerte sie auf Empfehlung des Beraters B. sämtliche En.- und E.-Aktien für insgesamt 78.866 EUR. Mit dem Erlös erwarb sie 50 (hier allein streitgegenständliche) L.-Zertifikate zum Preis von insgesamt 50.000 EUR. Weitere 24.000 EUR aus dem Aktienverkauf reinvestierte sie in (hier nicht streitgegenständliche) 225,162 Stück D.-Fondsanteile. Im Mai 2008 erhielt die Klägerin aus den L.-Zertifikaten eine Bonuszahlung von 4.375 EUR. Mittlerweile sind die Zertifikate weitgehend wertlos. Am 12.6.2008 verkaufte die Klägerin die D.-Fondsanteile für 22.995,79 EUR.
Rz. 3
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Zahlung von 50.000 EUR nebst Zinsen abzgl. der Bonuszahlung, die Feststellung des Annahmeverzugs, entgangene Anlagezinsen sowie Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten. Das LG hat der Klage bis auf den entgangenen Zinsgewinn und einen Teil der Anwaltskosten stattgegeben, eine Schadensberechnung anhand der Differenzhypothese vorgenommen und daher nur 22.863,21 EUR zugesprochen. Es hat im Tatbestand Folgendes als unstreitig festgestellt:
"In einem persönlichen Beratungsgespräch im September 2006 klärte der Berater B. die Klägerin über Funktionsweise und Risiken von Zertifikaten auf, insb. über Kursschwankungen und Emittentenrisiken."
Rz. 4
Das Berufungsgericht, das wegen des Sach- und Streitstandes erster Instanz auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen hat, hat die Berufungen beider Parteien zurückgewiesen und dies - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Interesse - wie folgt begründet:
Rz. 5
Die Berufung der Beklagten habe keinen Erfolg, da die Klägerin habe beweisen können, dass der Berater B. nicht ausdrücklich auf das mit dem Erwerb der Zertifikate grundsätzlich verbundene Emittentenrisiko hingewiesen habe. Der Senat halte an seiner Rechtsprechung fest, wonach seitens der beratenden Bank beim Erwerb von Zertifikaten ein solcher Hinweis geschuldet sei. Das gelte im vorliegenden Fall jedenfalls im Hinblick darauf, dass der Klägerin, die hier erstmals Zertifikate erworben habe, jegliche konkreten Vorkenntnisse gefehlt hätten. Dass ein ausdrücklicher Hinweis in dem der Order vorausgegangenen Telefonat nicht erteilt worden sei, stehe schon nach der Aussage des Beraters B. fest, der die Behauptung der Beklagten zu einem vorherigen ausdrücklichen Hinweis gerade nicht bestätigt und vielmehr den Vortrag der Klägerin gestützt habe, wonach erst in einem weiteren Anruf einige Tage nach der Order vom Emittenten- und Totalverlustrisiko die Rede gewesen sei. Das zeige auch, dass die Klägerin bei vorheriger Aufklärung von dem Geschäft Abstand genommen hätte.
II.
Rz. 6
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Soweit das Berufungsgericht gegen die Beklagte erkannt hat, ist die Revision nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, weil das angegriffene Urteil den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BGH v. 11.5.2004 - XI ZB 39/03, BGHZ 159, 135 [139 f.]; v. 9.2.2010 - XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516). Aus demselben Grund ist es gem. § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 7
1. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht allerdings eine Aufklärungspflicht der Beklagten hinsichtlich des sog. allgemeinen Emittentenrisikos angenommen. Wie der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 27.9.2011 (XI ZR 182/10, BGHZ 191, 119 Rz. 25 ff. und XI ZR 178/10, WM 2011, 2261 Rz. 26 ff.) entschieden hat, ist eine beratende Bank beim Vertrieb von Indexzertifikaten auch dann, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Emittentin bestehen, verpflichtet, den Anleger darüber aufzuklären, dass er im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Emittentin bzw. Garantiegeberin das angelegte Kapital vollständig verliert (allgemeines Emittentenrisiko).
Rz. 8
2. Das Berufungsgericht hat jedoch den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es einerseits auf die tatbestandliche Feststellung des LG Bezug genommen hat, die Klägerin sei im September 2006 von dem Berater B. über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt worden, andererseits aber in den Entscheidungsgründen ausgeführt hat, die Klägerin habe beweisen können, dass seitens des Beraters B. ein ausdrücklicher Hinweis auf das mit dem Erwerb der Zertifikate grundsätzlich verbundene Emittentenrisiko nicht erfolgt sei und der Klägerin im Hinblick darauf, dass sie hier erstmals Zertifikate erworben habe, jegliche konkreten Vorkenntnisse fehlten. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts sind widersprüchlich und erlauben dem Senat daher keine hinreichend sichere rechtliche Beurteilung des Parteivorbringens (§§ 545 Abs. 1, 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Rz. 9
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 70, 288 [293 f.]; 96, 205, 216f.); eine Verletzung ist aber erst dann gegeben, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Das Gericht muss sich nicht mit jedem Vorbringen der Prozessbeteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befassen. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nur dann gegeben, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BGH, Beschl. v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 [300]; BVerfGE 25, 137 [140]; 47, 182, 187 f.; 54, 86, 92; 65, 293, 295f.; 69, 233, 246; 70, 288, 293; 85, 386, 404; 88, 366, 375 f.; BVerfG NJW 1994, 2279; NVwZ 1995, 1096; NJW 1998, 2583 [2584]; NJW-RR 2002, 68 [69]).
Rz. 10
b) Nach diesen Maßstäben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt.
Rz. 11
Das LG hat im unstreitigen Teil seines Urteils festgestellt, dass die Klägerin im September 2006 durch den Berater B. über Funktionsweise und Risiken von Zertifikaten, insb. das Emittentenrisiko aufgeklärt worden ist. Diese Feststellung gehört wegen der Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) zum Tatbestand des Berufungsurteils (vgl. BGH, Urt. v. 5.10.1988 - VIII ZR 222/87, NJW-RR 1989, 306 [307]). Damit steht die in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils getroffene Feststellung in Widerspruch, die Klägerin habe beweisen können, dass seitens des Beraters B. ein ausdrücklicher Hinweis auf das mit dem Erwerb der Zertifikate grundsätzlich verbundene Emittentenrisiko nicht erfolgt sei und der Klägerin im Hinblick auf Zertifikate jegliche konkreten Vorkenntnisse fehlten. Der Umstand, dass sich das Berufungsgericht mit diesem offensichtlichen Widerspruch nicht auseinandergesetzt, insb. nicht deutlich gemacht hat, worauf seine der in Bezug genommenen erstinstanzlichen Feststellung widersprechende bessere Erkenntnis gründet, sondern vielmehr lediglich eine Aufklärung in dem der Order vorangegangenen Telefonat vom Februar 2007 diskutiert hat, lässt nur den Schluss zu, dass das Berufungsgericht das unstreitige Parteivorbringen erster Instanz zu einer bereits im September 2006 erfolgten Aufklärung der Klägerin auch über das sog. allgemeine Emittentenrisiko nicht zur Kenntnis genommen hat.
Rz. 12
c) Das Berufungsurteil beruht auf dieser Gehörsverletzung. Diese Voraussetzung ist schon dann erfüllt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens anders entschieden hätte (vgl. BVerfGE 7, 95 [99]; 60, 247, 250; 62, 392, 396; 65, 305, 308; 89, 381, 392 f.). Dies ist hier der Fall, weil die Klägerin dann, wenn ihr das allgemeine Emittentenrisiko von Zertifikaten bereits wegen der Aufklärung im September 2006 geläufig gewesen sein sollte, hierüber vor den streitgegenständlichen Käufen im Februar 2007 nicht erneut aufgeklärt werden musste (vgl. BGH, Urt. v. 27.9.2011 - XI ZR 178/10, WM 2011, 2261 Rz. 31 f.).
Rz. 13
3. Das angefochtene Urteil ist danach gem. § 544 Abs. 7 ZPO in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht wird den oben genannten Widerspruch aufzuklären haben.
III.
Rz. 14
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist dagegen zurückzuweisen, weil insoweit die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts sowie die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gem. § 544 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 ZPO abgesehen.
Fundstellen
Haufe-Index 6355502 |
EBE/BGH 2014 |
NJW-RR 2014, 381 |
WM 2014, 123 |
JZ 2014, 141 |
MDR 2014, 175 |
PAK 2014, 74 |