Entscheidungsstichwort (Thema)
Haft zur Sicherung der Abschiebung. Anordnung auf Vorrat. Ende einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft. Ungewisser Zeitpunkt. Abschiebungshaft. Haftzeitraum. Haftanordnung. Versuchter Fahrraddiebstahl. Untersuchungshaft
Leitsatz (amtlich)
a) Die Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nicht "auf Vorrat" angeordnet werden, indem ihr Beginn an das Ende einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft und damit an einen in der Zukunft liegenden ungewissen Zeitpunkt geknüpft wird (Aufgabe des Senatsbeschlusses v. 9.3.1995 - V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff., bestätigt durch BGH v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rz. 12).
b) Sie kann jedoch parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet werden, sofern die üblichen Voraussetzungen hierfür vorliegen; obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft vollzogen werden kann, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an.
Normenkette
AufenthG § 62
Verfahrensgang
LG Traunstein (Beschluss vom 16.04.2014; Aktenzeichen 4 T 1352/14) |
AG Mühldorf a. Inn (Beschluss vom 01.04.2014; Aktenzeichen 1 XIV 45/14 (L)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Traunstein vom 16.4.2014 aufgehoben, soweit zum Nachteil des Betroffenen entschieden worden ist.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Mühldorf am Inn vom 1.4.2014 den Betroffenen auch in dem Zeitraum ab dem 5.2.2014 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene wurde im Jahr 2009 unter Androhung der Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Vom 24.9.2013 bis zum 13.1.2014 befand er sich wegen eines versuchten Fahrraddiebstahls in Untersuchungshaft. Währenddessen ordnete das AG auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 1.10.2013 Abschiebungshaft für die Dauer von längstens drei Monaten an, wobei diese im Anschluss an die Untersuchungshaft bzw. Strafhaft vollstreckt werden sollte. Hiergegen legte der Betroffene am 20.1.2014 Beschwerde ein, die als unzulässig verworfen wurde; hilfsweise hat er die Aufhebung der Haft beantragt.
Rz. 2
Mit Beschluss vom 1.4.2014 hat das AG den Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen. Auf die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde hat das LG unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen festgestellt, dass die Inhaftierung in dem Zeitraum vom 20. Januar bis zum 4.2.2014 rechtswidrig war. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene feststellen lassen, dass er auch über den 4.2.2014 hinaus in seinen Rechten verletzt worden ist.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 4
1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen durfte der Beginn der Sicherungshaft nicht an das Ende der laufenden Untersuchungshaft und damit an einen in der Zukunft liegenden ungewissen Zeitpunkt geknüpft werden.
Rz. 5
a) Allerdings hat der Senat die Anordnung von Abschiebungshaft für drei Monate - wie hier - im Anschluss an eine bestehende Untersuchungshaft bislang gebilligt (Beschlüsse v. 9.3.1995 - V ZB 7/95, BGHZ 129, 98 ff.; v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rz. 12; zustimmend Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62 AufenthG Rz. 353; Keidel/Budde, FamFG, 18. Aufl., § 425 Rz. 5). In der Folgezeit hat er jedoch für die Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate möglich erscheint, bei einer solchen "Überhaft" auf den Erlass der Haftanordnung und nicht auf den mutmaßlichen Beginn der Abschiebungshaft abgestellt (BGH, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 309/10, juris Rz. 15; vgl. auch BGH, Beschl. v. 25.3.2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rz. 18; ebenso Prütting/Helms/Jennissen, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rz. 11; Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 62 AufenthG Rz. 146).
Rz. 6
b) Der Begriff der Überhaft ist in diesem Zusammenhang zwar gebräuchlich, aber irreführend, weil er dem Strafprozessrecht entlehnt ist und dort die Existenz eines weiteren Haftbefehls neben einer bereits vollzogenen Haft kennzeichnet. Die Vorführung des Beschuldigten vor den Richter (§§ 115, 115a StPO) findet bei notierter Überhaft erst statt, wenn insoweit die Vollstreckung beginnt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., vor § 112 Rz. 12 f., § 115 Rz. 12; KK/Graf, StPO, 7. Aufl., vor § 112 Rz. 17, § 115 Rz. 16). Hiervon unterscheidet sich das Freiheitsentziehungsverfahren nach den Vorschriften der §§ 415 ff. FamFG in wesentlichen Punkten. Einen Haftbefehl bzw. eine "auf Vorrat" angeordnete Sicherungshaft sieht es gerade nicht vor (Senat, Beschl. v. 9.6.2011 - V ZB 26/11, juris Rz. 8). Die Anhörung des Betroffenen erfolgt vor der Anordnung der Haft. In diesem Zeitpunkt muss der Haftrichter abschließend über deren Voraussetzungen befinden.
Rz. 7
c) Richtigerweise kann die Haft zur Sicherung der Abschiebung daher nur parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet werden. Dies kann einem praktischen Bedürfnis entsprechen (vgl. BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rz. 12), weil das vorzeitige Ende einer Strafhaft etwa bei Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch Zahlung der Geldstrafe eintreten (vgl. § 459e Abs. 4 Satz 1 StPO; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 459e Rz. 5) und die Untersuchungshaft ohnehin jederzeit enden kann. Obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft vollzogen wird, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an (zutreffend LG Verden, InfAuslR 2012, 425 f.; ähnlich OLG Köln OLGReport Köln 2002, 364 f.; OLG München OLGReport München 2005, 439 f.; OLG Düsseldorf, InfAuslR 2008, 38 f.; im Ergebnis auch Prütting/Helms/Jennissen, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rz. 11).
Rz. 8
d) Für eine Anordnung von Abschiebungshaft parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft müssen die üblichen formellen und materiellen Voraussetzungen vorliegen. Insbesondere muss die Haft auf die kürzest mögliche Dauer beschränkt werden (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG); die Behörde darf während der Untersuchungshaft bzw. der Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht untätig bleiben. Es darf nicht feststehen, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG; vgl. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 309/10, juris Rz. 15). Bei laufender Untersuchungshaft kann die Abschiebungshaft nur angeordnet werden, wenn das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt (§ 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG); ist dieses erteilt worden, kann davon ausgegangen werden, dass der Haftbefehl der Abschiebung nicht entgegenstehen und die Staatsanwaltschaft ggf. dessen Aufhebung beantragen wird (§ 120 Abs. 3 StPO).
Rz. 9
2. Daran gemessen erweist sich die Haft als rechtswidrig. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt. Der Haftbeginn war jedoch an ein künftiges Ereignis geknüpft. Dieser Fehler hat sich auch ausgewirkt, weil die Dreimonatsfrist bereits abgelaufen war, als der Vollzug der Abschiebungshaft begann.
Rz. 10
3. Zudem hat das AG unter Verletzung von § 26 FamFG die ihm obliegende Prognose (näher dazu Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rz. 22) nicht vorgenommen. Die Haftanordnung vom 1.10.2013 enthält keinerlei Prognose. Die Entscheidung über den Antrag auf Haftaufhebung vom 1.4.2014 beschränkt sich auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde, der ursprüngliche Zeitplan werde eingehalten und das Beschleunigungsgebot finde Beachtung. Aus dem späteren tatsächlichen Geschehensablauf kann zwar auf den mutmaßlichen Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden (BGH, Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rz. 19). Hier ist die Abschiebung aber nicht während der Haftzeit erfolgt.
III.
Rz. 11
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2, 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Fundstellen
BGHZ 2015, 323 |
NVwZ 2015, 1079 |
NVwZ 2015, 7 |
FGPrax 2015, 90 |
JZ 2015, 130 |
ZAR 2015, 74 |
ZAR 2015, 8 |
NJW-Spezial 2015, 154 |