Entscheidungsstichwort (Thema)
Eintragung von Fristen in Fristenkalender durch Rechtsanwaltsgehilfin. Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Fristenkontrolle durch Büropersonal. Eigenständige Löschung der Frist durch Büropersonal
Leitsatz (amtlich)
Mit der Notierung und Überwachung von Fristen darf ein Rechtsanwalt sein voll ausgebildetes und sorgfältig überwachtes Personal betrauen, soweit nicht besondere Gründe gegen deren Zuverlässigkeit sprechen. Wenn der Rechtsanwalt zugleich durch eine allgemeine Kanzleianweisung oder durch Einzelanweisungen sicherstellt, dass im Fristenkalender eingetragene Fristen erst gelöscht werden dürfen, nachdem die Fristsache erledigt ist, darf die mit der Fristenkontrolle betraute Rechtsanwaltsgehilfin die Frist nach Prüfung der sich aus den Handakten ergebenden Erledigung eigenständig löschen und muss nicht zusätzlich in jedem Einzelfall die Zustimmung des zuständigen Rechtsanwalts einholen.
Normenkette
ZPO §§ 233, 520 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 12. Zivilsenats - Familiensenat - des OLG München vom 20.9.2005 aufgehoben.
Der Beklagten wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Schlussurteil des AG Rosenheim vom 10.6.2005 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Beschwerdewert: 12.301 EUR.
Gründe
I.
[1] Die Parteien streiten um den Zugewinnausgleich.
[2] Mit Vorbehaltsurteil vom 25.4.2002 hat das AG die Beklagte verurteilt, an ihren geschiedenen Ehemann einen Zugewinnausgleich zu zahlen. Nach dem Tod des Ehemannes haben seine Mutter (Klägerin zu 1)) und seine Schwestern (Klägerinnen zu 2) bis 4)) den Rechtsstreit als Erbengemeinschaft aufgenommen und den Anspruch auf Zugewinnausgleich weiterverfolgt. Die Klägerin zu 1) ist inzwischen ebenfalls verstorben und wurde von den Klägerinnen zu 2) bis 4) beerbt. Mit Schlussurteil vom 10.6.2005 hat das AG das Vorbehaltsurteil aufrechterhalten. Gegen das ihr am 17.6.2005 zugestellte Schlussurteil hat die Beklagte am 7.7.2005 Berufung eingelegt. Mit einem am gleichen Tag eingegangenen Schriftsatz vom 24.8.2005 hat sie Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und zugleich die Berufung begründet.
[3] Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags hat die Beklagte vorgetragen, weder sie noch ihren Prozessbevollmächtigten treffe ein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Nach Zustellung des Urteils seien darauf die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist vermerkt worden. Diese Fristen seien jeweils mit zwei Vorfristen im Fristenkalender notiert worden. Im Büro ihres Prozessbevollmächtigten werde die Sache bei Ablauf einer Vorfrist dem zuständigen Rechtsanwalt mit dem Vermerk "Vorfrist" vorgelegt. Am Morgen des Fristablaufs werde die Erledigung überprüft und die Sache, wenn sie nicht erledigt sei, mit dem auffälligen Vermerk "Fristablauf heute" erneut vorgelegt. Vor Büroschluss werde kontrolliert, ob alle Fristsachen erledigt seien; erst dann werde die Frist gelöscht. In diesem Fall habe die für die Führung des Fristenkalenders geschulte und zuverlässige Rechtsanwaltsgehilfin R. nach Einlegung der Berufung allerdings aus unerklärlichen Gründen und eigenmächtig neben den Berufungsfristen auch die für die Berufungsbegründung im Fristenkalender eingetragenen Vorfristen vom 3.8.2005 und 11.8.2005 sowie den Fristablauf zur Berufungsbegründung am 17.8.2005 gestrichen. Dies sei ihrem Prozessbevollmächtigten erst am 22.8.2005 aufgefallen, als ihm die Akte aufgrund allgemeiner Wiedervorlage vorgelegt worden sei. Zur Glaubhaftmachung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs bezieht sich die Beklagte auf die eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwaltsgehilfin R.
[4] Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
[5] Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet und führt zur begehrten Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist.
[6] 1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO i.V.m. § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und gem. § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
[7] Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH (BGHZ 151, 221, 227 m.w.N. und BGH v. 9.2.2005 - XII ZR 225/04, FamRZ 2005, 791, 792 m.w.N. sowie v. 18.7.2007 - XII ZB 32/07, FamRZ 2007, 1722) dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in besonderer Weise dazu, den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör zu garantieren. Daher gebieten es die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. auch BVerfGE 88, 118, 123 ff.). Gegen diesen Grundsatz verstößt die angefochtene Entscheidung.
[8] 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
[9] Im Ansatz zu Recht geht das Berufungsgericht zwar davon aus, dass der Beklagten ein Verschulden der Rechtsanwaltsgehilfin ihres Prozessbevollmächtigten nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet werden kann. Im Gegensatz zu seiner Rechtsauffassung scheidet hier aber auch ein der Beklagten zurechenbares Organisationsverschulden ihres Prozessbevollmächtigten aus.
[10] a) Auch insoweit ist das Berufungsgericht allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass es zu den Aufgaben des Prozessbevollmächtigten gehört, dafür zu sorgen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig hergestellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht. Zu diesem Zweck muss er nicht nur sicherstellen, dass ihm die Akten mit Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfristen rechtzeitig zur Bearbeitung vorgelegt werden. Er muss vielmehr zusätzlich eine zuverlässige Ausgangskontrolle schaffen, die eine rechtzeitige Versendung fristwahrender Schriftsätze gewährleistet.
[11] Da für die Ausgangskontrolle in jedem Anwaltsbüro ein Fristenkalender unabdingbar ist, muss der Rechtsanwalt sicherstellen, dass die im Kalender vermerkten Fristen erst gestrichen werden oder deren Erledigung sonst kenntlich gemacht wird, wenn die fristwahrende Maßnahme durchgeführt, der Schriftsatz also gefertigt und abgesandt oder zumindest postfertig gemacht, die weitere Beförderung der ausgehenden Post also organisatorisch zuverlässig vorbereitet worden ist. Schließlich gehört zu einer wirksamen Ausgangskontrolle auch eine Anordnung des Prozessbevollmächtigten, durch die gewährleistet wird, dass die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten Bürokraft überprüft wird (BGH v. 9.11.2005 - XII ZB 270/04, FamRZ 2006, 192).
[12] b) Mit der Notierung und Überwachung von Fristen darf ein Rechtsanwalt allerdings sein voll ausgebildetes und sorgfältig überwachtes Personal betrauen, soweit nicht besondere Gründe gegen deren Zuverlässigkeit sprechen (BGH v. 11.9.2007 - XII ZB 109/04, FamRZ 2007, 2059, 2060). Wenn der Rechtsanwalt zugleich durch eine allgemeine Kanzleianweisung oder durch Einzelanweisungen sicherstellt, dass im Fristenkalender eingetragene Fristen erst gelöscht werden dürfen, nachdem die Fristsache erledigt ist (vgl. auch BGH Beschl. v. 18.10.1993 - II ZB 7/93, NJW 1993, 3333), darf die mit der Fristenkontrolle betraute Rechtsanwaltsgehilfin die Frist nach Prüfung der sich aus den Handakten ergebenden Erledigung eigenständig löschen und muss nicht zusätzlich in jedem Einzelfall die Zustimmung des zuständigen Rechtsanwalts einholen.
[13] Denn die Fristenkontrolle soll lediglich gewährleisten, dass ein fristwahrender Schriftsatz rechtzeitig hergestellt und postfertig gemacht wird. Ist dies geschehen und die weitere Beförderung der ausgehenden Post organisatorisch zuverlässig vorbereitet, darf die Frist im Kalender als erledigt gekennzeichnet werden (BGH, Urt. v. 11.1.2001 - III ZR 148/00, NJW 2001, 1577, 1578). Diesen Anforderungen ist durch eine allgemeine Kanzleianweisung, eine Frist erst dann zu löschen, wenn die entsprechende Fristsache erledigt ist, genügt. Eine solche Anweisung verlangt von der Rechtsanwaltsgehilfin die vorherige Prüfung, ob entweder der fristwahrende Schriftsatz gefertigt und postfertig gemacht worden ist oder ob nach einer ausdrücklichen Anweisung des Rechtsanwalts von der (weiteren) Durchführung des Rechtsmittelverfahrens abgesehen werden soll. Sie setzt somit eine vorherige Kontrolle voraus, die bei der gebotenen sorgfältigen Handhabung geeignet ist, eine Löschung der Frist vor Erledigung der fristgebundenen Handlung zu verhindern. Dem entspricht nach der eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwaltsgehilfin die Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten der Beklagten.
[14] Entsprechend hat die Rechtsanwaltsgehilfin die Berufungsfrist erst gelöscht, als der rechtzeitige Zugang der Berufungsschrift sichergestellt war. Wenn sie in diesem Zeitpunkt zugleich die Fristen für die Berufungsbegründung gelöscht hat, kann das nur darauf zurückzuführen sein, dass sie versehentlich davon ausging, das Rechtsmittel sei bereits begründet oder werde nicht durchgeführt. Dass beides nicht der Fall war und das Rechtsmittel weiter durchgeführt werden sollte, war - auch auf der Grundlage der Kanzleiorganisation des Prozessbevollmächtigten der Beklagten - offensichtlich. Denn Grund für die Löschung der Berufungsfrist war die Absendung der Berufungsschrift, die erkennbar noch keine Begründung enthielt. Für ein solches unvorhersehbares Fehlverhalten einer Rechtsanwaltsgehilfin ist der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht verantwortlich zu machen.
Fundstellen
Haufe-Index 1976701 |
BGHR 2008, 714 |
EBE/BGH 2008 |
FamRZ 2008, 1165 |
FuR 2008, 286 |
NJW-RR 2008, 1160 |
StuB 2008, 449 |
AnwBl 2008, 469 |
MDR 2008, 704 |
FamRB 2008, 196 |
NWB direkt 2008, 10 |
RENOpraxis 2008, 93 |
Mitt. 2008, 285 |
Rafa-Z 2008, 10 |