Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Verstoß gegen europäisches Gemeinschaftsrecht durch die Einrichtung und Ausgestaltung des Rechtswegs zu den Anwaltsgerichten
Leitsatz (redaktionell)
Die Zuweisung der Rechtsstreitigkeiten über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, über den Widerruf der Zulassung und sämtlicher hiermit verbundener Verfahren an die Anwaltsgerichte ist mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Durch sie wird insbesondere die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstverkehr nicht beeinträchtigt.
Normenkette
BRAO § 206 Abs. 1, § 223 Abs. 3 S. 1; VwGO § 40; EGV Art. 43, 49, 85 Abs. 1
Verfahrensgang
AGH Berlin (Beschluss vom 08.04.2002) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des I. Senats des AGH Berlin v. 8.4.2002 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen und der Antragsgegnerin die ihr im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller hat sich mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin gewandt, mit dem diese die Aufnahme des Antragstellers als Mitglied der Rechtsanwaltskammer (§ 206 Abs. 1 BRAO in der Neufassung durch das Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland v. 9.3.2000 (BGBl. I 2000, 182) wegen Verstoßes gegen die Kanzleipflicht widerrufen hat. Vorab hat er beantragt, das Verfahren wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zu den Anwaltsgerichten an das VGH B. zu verweisen.
Der AGH hat den Antrag abgelehnt und die sofortige Beschwerde zugelassen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§ 223 Abs. 3 S. 1 BRAO); sie hat jedoch keinen Erfolg. Entgegen den Bedenken des Antragstellers ist die Anwaltsgerichtsbarkeit zur Entscheidung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zuständig.
1. Gemäß § 40 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art eröffnet, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Von dieser Zuweisungskompetenz hat der Bundesgesetzgeber Gebrauch gemacht, indem er in der Bundesrechtsanwaltsordnung Rechtsstreitigkeiten über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, über den Widerruf der Zulassung und sämtliche hiermit verbundenen Verfahren dem AGH zur Entscheidung zugewiesen hat. Nach der st. Rspr. des BVerfG handelt es sich bei dem AGH um ein staatliches Gericht, dem die vorgenannten Zulassungsangelegenheiten der Rechtsanwälte wirksam zugewiesen sind (vgl. BVerfG BVerfGE NJW 1969, 2192; NJW 1978, 1795).
2. Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist diese Gesetzeslage mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar.
a) Allerdings ist im vorliegenden Fall das europäische Gemeinschaftsrecht anwendbar, falls der Antragsteller, wie er behauptet, in London niedergelassen ist und dort umfassend Beratungsleistungen erbringen darf. Dies unterstellt der Senat zugunsten des Antragstellers. Da er mit den gleichen Befugnissen eine Niederlassung im Inland anstrebt, geht es - obwohl der Antragsteller deutscher Staatsangehöriger ist - um einen die Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft überschreitenden Verkehr.
b) Das Verfahrensrecht unterliegt zwar der Regelungshoheit der jeweiligen Mitgliedstaaten. Die Verwirklichung des materiellen Gemeinschaftsrechts darf indes durch das nationale Verfahrensrecht nicht übermäßig erschwert werden (EuGH, Urt. v. 20.3.1997 - Rs. C-323/95 - Hayes, MDR 1997, 772 = EuZw 1997, 280 [281] Rz. 13; vgl. auch BVerwG v. 23.4.1998 - 3 C 15/15/97, NJW 1998, 3728 [3729]). Deshalb ist die Einrichtung und Ausgestaltung des Rechtsweges zu den Anwaltsgerichten darauf zu überprüfen, ob sie die von dem Antragsteller beanspruchten gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dies ist nicht der Fall.
aa) Indem Rechtsstreitigkeiten über die Zulassung als Rechtsanwalt in Deutschland den Anwaltsgerichten zugewiesen sind, werden die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 49 EGV) nicht beeinträchtigt.
Allerdings ist die Tätigkeit eines Rechtsanwalts (auch) wirtschaftlicher Art (EuGH, Urt. v. 19.2.2002 - Rs. C-309/99 - Wouters, NJW 2002, 877 [878] Rz. 49) und kann eine Rechtsanwaltskammer unter Umständen als Unternehmensvereinigung i. S. v. Art. 85 Abs. 1 EGV anzusehen sein (EuGH, Urt. v. 19.2.2002 - Rs. C-309/99 - Wouters, NJW 2002, 877 [878] Rz. 64). Nationale Verfahrensvorschriften, welche Wirtschaftsteilnehmern aus einem anderen Mitgliedstaat im Falle von Rechtsstreitigkeiten, die sich aus ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ergeben, den Zugang zu den nationalen Gerichten erschweren, würden die wirtschaftliche Betätigung innerhalb der Gemeinschaft unzulässig beeinträchtigen (EuGH, Urt. v. 20.3.1997 - Rs. C-323/95 - Hayes, MDR 1997, 772 = EuZw 1997, 280 [281] Rz. 14). Die genannten Vorschriften schützen - über ihren Wortlaut hinaus - auch die freie Niederlassung und die Dienstleistungsfreiheit im Hoheitsgebiet des eigenen Staates, sofern der Betreffende aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates zuwandern und im eigenen Staat eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen will (EuGH, Urt. v. 31.3.1993 - Rs. C-19/92 - Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rz. 15 f). Der Zugang zu den Anwaltsgerichten ist jedoch den Bürgern anderer Mitgliedstaaten oder Inländern, die aus anderen Mitgliedstaaten zuwandern wollen, zu denselben Bedingungen eröffnet wie den deutschen Staatsangehörigen oder im Inland ansässigen Gemeinschaftsbürgern.
bb) Ob sich - wie der Antragsteller meint - aus den Gemeinschaftsregeln über den Wettbewerb (Art. 10, 81 EG) ergibt, dass eine Möglichkeit bestehen muss, die wettbewerbsrelevanten Maßnahmen der Antragsgegnerin durch ein ordentliches staatliches Gericht überprüfen zu lassen, kann dahinstehen. Sowohl der bei einem OLG eingerichtete AGH als auch der Anwaltssenat beim BGH sind ordentliche staatliche Gerichte. Dass bei ihnen auch Richter mitwirken, die aus der Rechtsanwaltschaft kommen und neben der Ausübung ihres Richteramtes weiter als Rechtsanwälte tätig sind, ändert nichts an ihrer richterlichen Unabhängigkeit. Solange diese gewährleistet ist, darf ein staatliches Gericht auch mit Richtern besetzt sein, die demselben Verkehrskreis angehören wie die Rechtsuchenden. Da sie auf Grund dessen für den Verfahrensgegenstand besondere Sachkunde mitbringen, ist dieser Umstand dem Verfahrensziel sachgerechter und lebensnaher Entscheidungen sogar förderlich.
3. Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass weder die anwaltlichen Mitglieder des AGH von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen waren, noch dass die anwaltlichen Mitglieder des erkennenden Senats ausgeschlossen sind.
Fundstellen
Haufe-Index 1059053 |
BRAK-Mitt. 2004, 35 |