Entscheidungsstichwort (Thema)
Versäumte Berufungsbegründung. Prozesskostenhilfe. Begründungsfrist
Leitsatz (redaktionell)
Die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist beginnt erst mit Zustellung der Prozesskostenhilfebewilligung zu laufen.
Normenkette
ZPO § 236 Abs. 2 S. 2, § 520 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
OLG Zweibrücken (Beschluss vom 07.08.2002) |
AG Ludwigshafen (Urteil vom 02.02.2002) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 2. Zivilsenats des OLG Zweibrücken als Familiensenat v. 7.8.2002 aufgehoben.
Der Klägerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das Urteil des AG - Familiengericht - Ludwigshafen v. 22.2.2002 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der beantragten Wiedereinsetzung in die Frist zur Berufungsbegründung bedarf es nicht.
Beschwerdewert: 1.208 Euro
Gründe
I.
Mit am 28.3.2002 beim OLG eingegangenem Schriftsatz beantragte die Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Berufung gegen das ihr am 28.2.2002 zugestellte Urteil des Familiengerichts zu gewähren. Der diesem Antrag stattgebende Beschluss wurde ihr am 14.5.2002 zugestellt.
Mit am gleichen Tag bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ihres zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten v. 28.5.2002 legte die Klägerin Berufung ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.
Am 27.6.2002 begründete sie die Berufung und beantragte zugleich vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist.
Das Berufungsgericht lehnte die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist ab und verwarf die Berufung als unzulässig, weil diese nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils begründet worden und die Begründung auch nicht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO nachgeholt worden sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin, mit der sie ihr Berufungsbegehren weiterverfolgt.
II.
Die wegen grundsätzlicher Bedeutung zulässige Rechtsbeschwerde (§§ 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 ZPO) hat Erfolg.
1. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der armen Partei, die sowohl die Monatsfrist für die Einlegung der Berufung (§ 517 ZPO) als auch die Zweimonatsfrist für deren Begründung (§ 520 Abs. 2 S. 1 ZPO) versäumt habe, könne nach Bewilligung der innerhalb der Berufungsfrist formgerecht beantragten Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn sie innerhalb der Zweiwochenfrist des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht nur die versäumte Prozesshandlung der Einlegung der Berufung nachgeholt, sondern diese auch begründet habe.
2. Auch wenn der Wortlaut der zitierten Vorschriften kein anderes Ergebnis zuzulassen scheint, hält diese Auffassung der rechtlichen Prüfung nicht stand.
Dabei kann zunächst nicht zweifelhaft sein, dass die Klägerin durch ihre mit einem Wiedereinsetzungsgesuch verbundene Berufungsschrift, die innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe bei Gericht eingegangen ist, hinsichtlich der Einlegung der Berufung i. S. d. § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO fristwahrend und auch im Übrigen ordnungsgemäß tätig geworden ist.
Das Berufungsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung daher zu Recht als - für sich gesehen - offensichtlich begründet angesehen und ihm nur deshalb nicht stattgegeben, weil die Berufung nach seiner Ansicht aus anderen Gründen, nämlich wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist, unzulässig ist.
Dem kann nicht gefolgt werden.
a) Das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) gebietet es, den an einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Dazu zählt, dass die Partei grundsätzlich die Fristen ausnutzen darf, die der Gesetzgeber für das jeweilige gerichtliche Verfahren typisierend als sachlich angemessen erachtet hat (vgl. BVerfG v. 10.2.1987 - 2 BvR 314/86, MDR, 1987, 466 = NJW 1987, 1191).
Um die verfassungsrechtlich gebotene Angleichung der Situation bemittelter und unbemittelter Rechtsmittelführer (vgl. BVerfG a. a. O. und FamRZ 2000, 474, 475) zu gewährleisten, bedarf es daher angesichts der seit dem 1.1.2002 geltenden Neuregelung der Berufungsbegründungsfrist einer verfassungskonformen Auslegung des § 236 Abs. 2 S. 2 1. Hs. ZPO (vgl. auch OVG Sachsen VBl. 2000, 95 zum gleich lautenden § 60 Abs. 2 S. 3 VwGO). Dies ergibt sich aus einer vergleichenden Betrachtung der zivilprozessualen Vorschriften vor und nach der Reform sowie anderer Verfahrensordnungen:
b) Die Durchführung des Rechtsmittels der Berufung (wie auch der Revision) vollzieht sich regelmäßig in zwei Schritten, nämlich der Einlegung des Rechtsmittels und seiner Begründung. Für diese beiden Teilakte sah und sieht das Gesetz unterschiedlich lange Fristen vor.
Nach bisherigem Zivilprozessrecht (§ 519 Abs. 2 S. 2 ZPO a. F.) war der Lauf der Begründungsfrist einlegungsabhängig, d. h. die bislang einmonatige Begründungsfrist wurde erst durch die Einlegung des Rechtsmittels in Lauf gesetzt. Dies hatte zur Folge, dass der armen Partei, die an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gehindert war, nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe zwar nur die Zweiwochenfrist des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO verblieb, um die Rechtsmitteleinlegung nachzuholen, was indes unbedenklich ist, da die Rechtsmitteleinlegung - im Gegensatz zur Begründung des Rechtsmittels - nur geringen Zeit- und Arbeitsaufwand erfordert. Sodann verblieb ihr aber die volle vom Gesetz vorgesehene Frist von einem Monat ab Einlegung des Rechtsmittels, um dieses zu begründen oder eine Verlängerung der Begründungsfrist nach § 519 Abs. 2 S. 3 ZPO a. F. zu beantragen.
c) Durch das Zivilprozessreformgesetz ist die Rechtsmittelbegründungsfrist nunmehr in Angleichung an andere, noch zu erörternde Verfahrensordnungen unabhängig vom Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels gestaltet worden; sie beträgt nunmehr zwei Monate und beginnt mit der Zustellung der anzufechtenden Entscheidung (§ 520 Abs. 2 S. 1 ZPO). Das hat zur Folge, dass die arme Partei im Zeitpunkt der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zumeist nicht nur die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels versäumt haben wird, sondern - zumindest nach der Auffassung des Berufungsgerichts - auch die Frist zu seiner Begründung. Eine den Wortlaut des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO strikt befolgende Handhabung dieser Vorschrift hätte daher die vom Berufungsgericht angenommene Notwendigkeit zur Folge, auch die Begründung des Rechtsmittels innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses nachzuholen.
d) Eine derart einschneidende Verkürzung der Begründungsfrist, wie sie schon das Reichsgericht (RG WarnRspr. 1920 Nr. 63 S. 79 a. E.) für unbillig gehalten hat, entspricht ersichtlich nicht der Absicht der Neuregelung des Zivilprozessrechts. Der Zwang zur Berufungsbegründung soll auch im Interesse der Entlastung der Gerichte zu einer gründlichen und sachgerechten Prüfung der Frage anhalten, ob ein Rechtsmittelverfahren durchgeführt werden soll (vgl. Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO Aktualisierungsband, § 520 Rz. 2); eine Verkürzung der Begründungsfrist liefe diesem Anliegen zuwider. Die Neuregelung der Begründungsfrist sollte vielmehr die Fristberechnung vereinfachen und so die Zahl von Wiedereinsetzungsgesuchen wegen fehlerhafter Fristberechnung vermindern; im Hinblick darauf hielt der Gesetzgeber es für hinnehmbar, dass sich im Falle frühzeitiger Berufungseinlegung im Vergleich zum bisherigen Recht eine relative Verlängerung der Begründungsfrist ergebe (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 14/4722, 95). Dass hingegen auch eine mögliche Verkürzung bewusst in Kauf genommen werden soll, erscheint angesichts dieser Begründung ausgeschlossen. Insbesondere war mit der Neuregelung ersichtlich nicht beabsichtigt, der mittellosen Partei, die die Berufungsfrist versäumt hat, die nach bisherigem Recht bestehende Möglichkeit zu nehmen, eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu beantragen.
Zudem liefe eine solche Verkürzung dem Anliegen, die Zahl von Wiedereinsetzungsgesuchen einzudämmen, erst recht zuwider. Denn sie hätte die absehbare Folge, dass die versäumte Berufungsbegründung nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe in aller Regel nicht innerhalb der Zweiwochenfrist für den Antrag auf Wiedereinsetzung nachgeholt werden kann. Die Gerichte müssten daher nicht nur über die Wiedereinsetzung der armen Partei in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist befinden, sondern regelmäßig auch über einen weiteren, mit Arbeitsüberlastung des Anwalts begründeten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist, innerhalb derer der Antrag auf Wiedereinsetzung hinsichtlich der versäumten Begründungsfrist zu stellen gewesen wäre.
e) Soweit § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO die Nachholung der versäumten Prozesshandlung innerhalb der Zweiwochenfrist verlangt, konnte dies im Falle der an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gehinderten armen Partei nach bisherigem Recht nicht zu einer Verkürzung der ihr zu Gebote stehenden Begründungsfrist führen, weil diese erst mit der Einlegung der Berufung zu laufen begann. Da nunmehr die Versäumung der Einlegungsfrist durch die arme Partei regelmäßig mit der Versäumung der Begründungsfrist einhergehen wird und im Wiedereinsetzungsverfahren deshalb beides innerhalb der gleichen Frist von zwei Wochen (§ 234 Abs. 1 ZPO) - ohne die Möglichkeit einer Verlängerung der Begründungsfrist - nachzuholen wäre, wäre eine strikte Handhabung dieser unverändert gebliebenen Vorschrift, die auf diese Folge der Rechtsentwicklung nicht zugeschnitten ist, somit nicht gerechtfertigt. Sie bedarf daher in Fällen, in denen eine arme Partei (oder eine Partei, die sich für bedürftig halten durfte) an der rechtzeitigen Durchführung des Rechtsmittels gehindert war, einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden Korrektur (vgl. auch Wagner, NJW 1987, 1184), so wie die Rechtsprechung auch bisher schon Korrekturen in der Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung hat vornehmen müssen. So lässt sie beispielsweise die einjährige Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO nicht gelten, wenn das Gericht über die rechtzeitig beantragte Prozesskostenhilfe erst nach Ablauf dieser Frist entschieden hat (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.1973 - VI ZR 121/73, NJW 1973, 1373 unter Hinweis auf BVerfG NJW 1967, 1267 f.), und gewährt Wiedereinsetzung auch gegen die Versäumung von Fristen, die nicht zu den in § 233 ZPO bezeichneten Notfristen und Rechtsmittelfristen gehören (vgl. BVerfG NJW 1967, 1267 [1268] m.N.).
3. Eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verkürzung der Begründungsfrist auf zwei Wochen seit Behebung des in der (objektiv vorliegenden oder vermeintlichen) Mittellosigkeit der Partei liegenden Hindernisses durch die Prozesskostenhilfeentscheidung ließe sich nach Auffassung des Senats in einer den Bedürfnissen der Praxis gerecht werdenden Weise - de lege ferenda - am besten dadurch vermeiden, dass der Partei, die rechtzeitig ein vollständiges Prozesskostenhilfegesuch eingereicht hat und bedürftig ist oder sich dafür halten durfte, für die Begründung des Rechtsmittels - oder wahlweise die Beantragung der Verlängerung der Begründungsfrist - erneut eine mit der Zustellung der Prozesskostenhilfeentscheidung beginnende Frist von zwei Monaten eingeräumt wird, die derjenigen entspricht, die der Gesetzgeber für das jeweilige gerichtliche Verfahren typisierend als sachlich angemessen erachtet hat (vgl. BVerfG v. 10.2.1987 - 2 BvR 314/86, MDR, 1987, 466 = NJW 1987, 1191). Die Einräumung dieser erneuten Frist würde zugleich bedeuten, dass es einer Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der - zwei Monate nach Zustellung der anzufechtenden Entscheidung abgelaufenen - Rechtsmittelbegründungsfrist nicht bedarf.
Eine nicht gerechtfertigte Besserstellung der armen gegenüber der bemittelten Partei wäre damit nicht verbunden. Letztere kann sogleich nach Zustellung der in vollständiger Form abgefassten anzufechtenden Entscheidung alles zur Durchführung des Rechtsmittels Erforderliche veranlassen, so dass ihr dann für die Begründung des Rechtsmittels ebenfalls eine Frist von zwei Monaten zur Verfügung steht. Lediglich die Zeit, die sie dazu verwendet, sich darüber schlüssig zu werden, ob sie überhaupt ein Rechtsmittel einlegen will, verringert die ihr dann noch zur Verfügung stehende Zeit für dessen Begründung, während die arme Partei diese Entscheidung mit ihrem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Rechtsmittels bereits grundsätzlich getroffen hat. Soweit darin überhaupt ein nennenswerter zeitlicher Vorteil für die arme Partei zu sehen wäre, würde dieser jedoch durch den Nachteil ausgeglichen, der darin besteht, dass sie grundsätzlich darauf verwiesen ist, ihr Rechtsmittel mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung zu verbinden, also darauf angewiesen ist, sich eines außerordentlichen Rechtsbehelfs zu bedienen, auf den die bemittelte Partei nur ausnahmsweise zurückzugreifen braucht (vgl. BVerfG NJW 1967, 1267 m.N.). Auch soweit die Beschränkungen des Wiedereinsetzungsverfahrens dazu dienen sollen, Missbrauch und Prozessverschleppungen entgegenzuwirken, stünde dieser Gesichtspunkt der vorstehenden Lösung nicht entgegen. Die Gerichte bestimmen durch ihre Entscheidung über die Prozesskostenhilfe selbst den Zeitpunkt, von dem an das in der Kostenarmut liegende Hindernis entfällt. Von da an ist die Gefahr weiterer Rechtsunsicherheit nicht größer als in jedem anderen Rechtsstreit. Auch das Vertrauen der Gegenpartei wird hierdurch nicht in einer mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unverträglichen Weise beeinträchtigt. Da sie von dem Prozesskostenhilfegesuch des Gegners regelmäßig in Kenntnis gesetzt und damit von dessen Absicht, die Entscheidung anzufechten, unterrichtet wird, ist es ihr billigerweise zuzumuten, sich auf die Folgen einzurichten, die sich aus der rückwirkenden Beseitigung der formellen Rechtskraft ergeben, wenn der armen Partei später - wie im Regelfall zu erwarten - Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Rechtsmitteleinlegungsfrist gewährt wird (vgl. BVerfG NJW 1967, 1267 [1268]).
4. Der mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz v. 29.4.2003 - R A 2 - 3010/18 - R1 246/2003 - inzwischen vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (Justizmodernisierungsgesetz - JuMoG) lässt ebenfalls erkennen, dass die geltende gesetzliche Regelung einer Änderung bedarf. Art. 1 Nr. 7 des Entwurfs sieht vor, dem § 234 Abs. 1 ZPO folgenden Satz anzufügen:
"Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde, der Rechtsbeschwerde oder der Beschwerde nach §§ 621 e, 629 a Abs. 2 einzuhalten."
a) Ein Vorgriff auf die vorgesehene Regelung würde indessen die Benachteiligung der unbemittelten Partei nur unzureichend beseitigen und die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ausräumen. Denn erst ab Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist die unbemittelte Partei in der Lage, einen Anwalt mit ihrer Rechtsverfolgung zu beauftragen, und damit erstmals in der gleichen Situation, in der sich die bemittelte Partei nach Zustellung der anzufechtenden Entscheidung befindet. Ihr verbleibt für die Begründung ihres Rechtsmittels nach der vorgesehenen Regelung aber nur ein Monat, während der bemittelten Partei nicht nur zwei Monate zur Verfügung stehen, sondern auch die Möglichkeit, fristwahrend Verlängerung der Begründungsfrist zu beantragen.
b) Dieses Ergebnis entspräche im Übrigen nur im Ansatz den Lösungen, die andere oberste Bundesgerichte für ihre jeweiligen Verfahrensordnungen, in denen das Problem ebenfalls besteht, bereits vorgezeichnet haben. Die Regelung, dass die Frist zur Begründung eines Rechtsmittels (oder des Rechtsbehelfs der Nichtzulassungsbeschwerde) unabhängig von dessen Einlegung in Lauf gesetzt wird, findet sich auch in anderen, älteren Verfahrensordnungen, die dem § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO entsprechende Regelungen über die Wiedereinsetzung enthalten (vgl. § 60 Abs. 2 S. 3 VwGO in der ab 1.1.1991 geltenden Fassung, § 67 Abs. 2 S. 3 SGG in der ab 1.1.1975 geltenden Fassung, § 56 Abs. 2 S. 3 FGO in der seit 1.1.2001 geltenden Fassung, § 45 Abs. 2 S. 2 StPO in der seit 1.4.1987 geltenden Fassung). Insoweit macht es, auch wenn der Ablauf der Frist dadurch um wenige Tage variieren kann, sachlich keinen grundlegenden Unterschied, ob die Begründungsfrist unmittelbar an das Datum der Zustellung der anzufechtenden Entscheidung anknüpft (vgl. § 133 Abs. 3 S. 1 VwGO in der ab 1.1.1991 geltenden Fassung: Nichtzulassungsbeschwerde; § 139 Abs. 3 S. 1 VwGO in der ab 1.1.1991 geltenden Fassung: Revision; § 160 a Abs. 2 S. 1 SGG in der seit 1.1.1975 geltenden Fassung: Nichtzulassungsbeschwerde; § 66 Abs. 1 S. 1 und 2 ArbGG in der ab 1.1.2002 geltenden Fassung: Berufung; § 72 a ArbGG in der ab 1.7.1979 geltenden Fassung: Nichtzulassungsbeschwerde) oder aber so definiert wird, dass sie mit Ablauf der Einlegungsfrist beginnt, die ihrerseits mit der Zustellung der anzufechtenden Entscheidung beginnt (vgl. § 317 StPO: Berufung in Strafsachen; § 345 Abs. 1 S. 1 StPO: Revision in Strafsachen).
Trotz des teilweise identischen Wortlauts der jeweils einschlägigen prozessualen Vorschriften ist die Frage, wann die Rechtsmittelbegründungsfrist zu laufen beginnt, wenn Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einlegungsfrist beantragt wird, von den obersten Bundesgerichten unterschiedlich beantwortet worden (vgl. BFH v. 18.5.1994 - I R 111/93, BB 1995, 32 [33] m.N.; v. 4.9.2002 - XI R 67/00, NJW 2003, 1550 [1551]).
Für den Fall, dass dem armen Rechtsmittelführer nach der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Rechtsmitteleinlegungsfrist gewährt worden ist, sieht die Rechtsprechung
des BSG zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 a Abs. 2 S. 1 SGG (vgl. BSG SozR 1500 § 67 SGG Nr. 13 und § 164 SGG Nr. 9),
des BVerwG zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 3 S. 1 VwGO (vgl. BVerwG v. 18.3.1992 - 5 B 29/92, NJW 1992, 2307) und zur Begründung der Revision (Buchholz 310 § 139 VwGO Nr. 84),
des BAG zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72 a Abs. 3 ArbGG (BAG v. 19.9.1983 - 5 AZN 446/83, MDR, 1984, 84 = NJW 1984, 941)
sowie des 2. Strafsenats zur Begründung der Rechtsbeschwerde nach § 345 Abs. 1 StPO (BGH v. 8.1.1982 - 2 StR 751/80, BGHSt 30, 335 [338] = MDR 1982, 423) und zur Begründung der Revision (BGH, Beschl. v. 25.10.1989 - 2 StR 459/89, BGHR StPO § 345 Abs. 1 - Fristbeginn 3),
vor, dass dem im Prozesskostenhilfeverfahren erfolgreichen Rechtsmittelführer zur Begründung seines Rechtsmittels nach Zustellung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in die Einlegungsfrist zumindest die Frist verbleiben muss, um die die im Gesetz vorgesehene Begründungsfrist die Einlegungsfrist überschreitet, nämlich ein Monat.
c) Gegen diese Lösung, die Begründungsfrist erst mit der Zustellung der Wiedereinsetzungsentscheidung und nicht schon der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe beginnen zu lassen, spricht nach Auffassung des Senats, dass sie in Fällen, in denen nach der Prozesskostenhilfeentscheidung umgehend Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einlegungsfrist gewährt wird, für die arme Partei im Ergebnis zu einer Verkürzung der vom Gesetz vorgesehenen Begründungsfrist von zwei Monaten führen kann, und umgekehrt, dass sie in Fällen, in denen das Gericht erst sehr viel später über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet, den Beginn der (einmonatigen) Begründungsfrist in nicht gerechtfertigter Weise zu ihren Gunsten hinausschieben würde. Denn die arme Partei, der auf ihren rechtzeitigen und vollständigen Antrag hin Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann sich von diesem Zeitpunkt an der zu gewährenden Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einlegungsfrist gewiss sein, sofern sie nur innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO Wiedereinsetzung beantragt und die Einlegung des Rechtsmittels nachholt. Gleiches gilt für die Partei, der Prozesskostenhilfe versagt worden ist, die sich aber für bedürftig halten durfte. Die Zeit bis zur Wiedereinsetzungsentscheidung stünde ihr daher zusätzlich zu der sich daran anschließenden Monatsfrist zur Begründung des Rechtsmittels zur Verfügung; für diesen Vorteil im Vergleich zu einer bemittelten Partei ist eine sachliche Rechtfertigung nicht ersichtlich.
5. Das BVerwG (DVBl. 2002, 1050) hat lediglich für den Sonderfall, dass das Berufungsgericht von einer gesonderten Wiedereinsetzung in die Einlegungsfrist abgesehen hat, die zweimonatige Begründungsfrist des § 133 Abs. 3 S. 1 VwGO (deren Lauf ebenso geregelt ist wie der Lauf der Berufungsbegründungsfrist in § 520 Abs. 2 S. 1 ZPO) mit Zustellung der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe erneut beginnen lassen und ist damit für diesen Fall ebenfalls zu dem vom erkennenden Senat für angemessen gehaltenen Ergebnis gelangt.
Allerdings erscheint die Beschränkung auf Fälle des Absehens von einer gesonderten Wiedereinsetzung bedenklich. Da die Partei nicht voraussehen kann, ob und ggf. wann das Gericht eine gesonderte Entscheidung über die beantragte Wiedereinsetzung treffen wird, bliebe sie im Ungewissen, ob die zweimonatige Begründungsfrist mit der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu laufen begonnen hat, oder ob demnächst an deren Stelle eine mit der Wiedereinsetzungsentscheidung beginnende einmonatige Frist treten wird. Dies liefe dem ursprünglichen Anliegen des ZPO-Reformgesetzes zuwider, die Berechnung von Rechtsmittelbegründungsfristen zu vereinfachen und Irrtümer zu vermeiden. Zugleich lässt diese Lösung die vom BVerfG geforderte Rechtsmittelklarheit (vgl. BVerfG v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = ZIP 2003, 1102 [1109]) vermissen.
6. Im vorliegenden Fall bedarf es indes keiner abschließenden Entscheidung, ob bis zu einer Neuregelung des § 234 Abs. 1 ZPO den Erwägungen des Senats (oben zu 3), der Rechtsprechung anderer Bundesgerichte (oben zu 4 b) oder für den hier vorliegenden Sonderfall der Auffassung des BVerwG (oben zu 5) zu folgen ist.
Nach allen drei Auffassungen hat die Klägerin nämlich durch ihre am 27.6.2002 eingegangene Berufungsbegründung die Begründungsfrist gewahrt: Nach der Auffassung des Senats - und im Ergebnis ebenso nach der Entscheidung BVerwG DVBl. 2002, 1050 -, weil die zweimonatige Begründungsfrist erst mit der Zustellung der Prozesskostenhilfebewilligung am 14.5.2002 zu laufen begann, und desgleichen nach der oben zu 4 zitierten Rechtsprechung, derzufolge eine einmonatige Begründungsfrist erst mit der Zustellung der vorliegenden Entscheidung des Senats beginnt, die der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gewährt.
Da die Klägerin die Frist zur Begründung ihrer Berufung somit nicht versäumt hat und es der von ihr vorsorglich auch insoweit beantragten Wiedereinsetzung nicht bedarf, war die angefochtene, die Berufung verwerfende Entscheidung des OLG aufzuheben.
Fundstellen
NJW 2003, 3275 |
BGHR 2003, 1155 |
FamRZ 2003, 1462 |
FuR 2004, 133 |
JurBüro 2003, 599 |
ZAP 2003, 1169 |
AnwBl 2003, 721 |
MDR 2003, 1308 |
MDR 2006, 553 |
VersR 2004, 1198 |
FF 2003, 252 |
ZFE 2003, 310 |
BRAK-Mitt. 2003, 225 |
FK 2003, 152 |
KammerForum 2003, 419 |
ProzRB 2003, 331 |