BGH zur Wiedereinsetzung bei anwaltlicher Fristversäumnis
Zum wiederholten Mal hat sich der BGH ausführlich mit der Frage der Voraussetzungen für die Stattgabe bzw. Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung einer Berufungsbegründungsfrist auseinandergesetzt. Die Entscheidung hat nicht unerhebliche Bedeutung für einen möglichen Anwaltsregress infolge einer Fristversäumnis.
Fristsache von Kanzleimitarbeiterin als nicht fristgebundene Akte vorgelegt
Im konkreten Fall hatte ein Anwalt die Frist zur Begründung einer Berufung gegen ein Urteil versäumt, durch das die von ihm vertretene Partei zur Rückauflassung eines Grundstücks verurteilt worden war. Die Akten zur Fertigung der Berufungsbegründung waren dem Anwalt laut eidesstattlicher Versicherung seiner Kanzleimitarbeiterin eine Woche vor Fristablauf im üblichen Geschäftsgang als nicht fristgebundene Akte vorgelegt worden. Der für diese Fälle vorgesehene deutlich sichtbare Fristhinweis auf der Akte fehlte.
Zwei aufeinanderfolgende Wiedereinsetzungsanträge
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen durch den Anwalt eingelegte Rechtsbeschwerde war erfolgreich. Bereits vor Erlass der Beschwerdeentscheidung hatte der Anwalt einen erneuten Wiedereinsetzungsantrag mit ergänztem Sachvortrag gestellt, mit dem er die Darstellung der ursprünglichen eidesstattlichen Versicherung der Kanzleiangestellten durch eine eigene eidesstattliche Versicherung korrigierte.
Einwöchige Überprüfungspflicht auch nicht fristgebundener Wiedervorlagen
Die seitens des Anwalts an Eidesstatt versicherte, korrigierende Darstellung besagte, dass die Berufungsakte ihm nicht bereits eine Woche vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist, sondern frühestens 5 Tage – eher kürzer - vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden sei. Dies ist deshalb rechtserheblich, weil nach ständiger BGH-Rechtsprechung ein Anwalt, auch bei Vorlage einer nicht fristgebundenen Akte, verpflichtet ist, diese in angemessener Zeit, längstens innerhalb einer Woche auf ihre konkrete Bearbeitungsbedürftigkeit hin zu überprüfen (BGH, Beschluss v. 3.11.1997, VI ZB 47/97; BGH, Beschluss v. 29.3.2011, VI ZB 25/10).
Berufungsgericht ging von Anwaltsverschulden aus
Das Berufungsgericht hatte vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung die Ablehnung des ursprünglichen Wiedereinsetzungsantrags u.a. damit begründet, dass der Anwalt bei pflichtgemäßer Überprüfung der vorgelegten Akte innerhalb einer Woche den drohenden Fristablauf noch rechtzeitig hätte bemerken müssen. Damit habe der Anwalt die Fristversäumnis verschuldet.
Berufungsgericht hält Korrektur für unglaubhaft
Das Berufungsgericht beschied auch den zweiten Wiedereinsetzungsantrag abschlägig und führte zur Begründung aus, dass die eidesstattliche Versicherung des Anwalts im Rahmen des zweiten Wiedereinsetzungsantrags unglaubhaft sei, weil sie in Widerspruch zu den durch eine eidesstattliche Versicherung der Kanzleiangestellten glaubhaft gemachten Angaben im Rahmen des ersten Wiedereinsetzungsantrags stehe.
Keine hinreichende Entscheidungsgrundlage für Ablehnung der Wiedereinsetzung
Der BGH bewertete die die ablehnende Entscheidung stützenden Erwägungen des Berufungsgerichts grundsätzlich als nachvollziehbar und plausibel. Dennoch habe das Berufungsgericht die Angaben in der eidesstattlichen Versicherung des Anwalts vorschnell zur Grundlage einer ablehnenden Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag gemacht.
Überwiegende Wahrscheinlichkeit reicht für Glaubhaftmachung
Der Senat verwies auf § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO, wonach eine die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragende Partei die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Tatsachen glaubhaft zu machen hat.
- Eine Behauptung sei glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft (BGH, Beschluss v. 8.5.2018, VI ZB 5/17).
- Die Bewertung der Wahrscheinlichkeit unterliege der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BGH, Beschluss v. 26.1.2022, XII ZB 227/21).
Berufungsgericht hat Hinweispflicht verletzt
Nach Auffassung des BGH war das Berufungsgericht verpflichtet, den Anwalt bzw. die von ihm vertretene Partei auf die Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens hinzuweisen. Diese Hinweispflicht bestehe schon deshalb, weil eine von einem Anwalt abgegebene eidesstattliche Versicherung grundsätzlich als glaubhaft zu beurteilen sei, es sei denn, konkrete Anhaltspunkte sprechen gegen deren Richtigkeit (BGH, Beschluss v. 2.8.2022, VIII ZB 3/21; BGH, BGH, Beschluss v. 18.12.2019, XII ZB 379/19).
Obligatorische Einräumung einer Gelegenheit zur Stellungnahme
Wolle das Gericht der eidesstattlichen Versicherung eines Rechtsanwalts keinen Glauben schenken, so müsse es der Partei und dessen Anwalt die Gelegenheit einräumen, zu den Gründen Stellung zu nehmen. Da im Wiedereinsetzungsverfahren gemäß § 294 Abs. 1 ZPO sämtliche regulären Beweismittel zulässig seien, sei der Partei und ihrem Anwalt in diesen Fällen die Möglichkeit einzuräumen gegebenenfalls Zeugenbeweis für die Richtigkeit ihrer Darlegungen anzutreten (BGH, Beschluss v. 24.2.2010, XII ZB 129/09).
Vorweggenommene Beweiswürdigungen sind unzulässig
Nach Auffassung des BGH kann im Übrigen schon in der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung durch den Prozessbevollmächtigten ein Beweisangebot auf Vernehmung des Rechtsanwalts als Zeuge zu den darin dargestellten Tatsachen liegen. Auch diese Möglichkeit habe das Berufungsgericht nicht geprüft. Die Ablehnung der beantragten Wiedereinsetzung ohne die vorherige Vernehmung eines angebotenen Zeugen laufe im Ergebnis auf eine unzulässige, vorweggenommene Beweiswürdigung hinaus (BGH, Beschluss v. 25.11.2020, XII ZB 200/20; BGH, Beschluss v. 8.5.2007, VI ZB 80/06).
Berufungsgericht musste erneut entscheiden
Im konkreten Fall bewertete der BGH die seitens des Anwalts wiederholt eingereichte eidesstattliche Versicherung als konkludentes Beweisangebot für seine Vernehmung als Zeugen. Die Nichterhebung des angebotenen Beweises bedeute im Ergebnis für die von dem Anwalt vertretene Prozesspartei eine Versagung effektiven Rechtsschutzes sowie die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 GG. Das Berufungsgericht habe daher den Anwalt als Zeugen zu vernehmen und unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben des BGH erneut über die Wiedereinsetzung zu entscheiden.
(BGH, Beschluss v. 20.10.2022, V ZB 26/22)
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