Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OLG (Entscheidung vom 26.04.2022; Aktenzeichen 18 U 3/21) |
LG Kiel (Entscheidung vom 15.12.2020; Aktenzeichen 3 O 78/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 18. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 26. April 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 45.000 €.
Gründe
Rz. 1
Die Beklagten haben gegen das ihnen am 16. Dezember 2020 zugestellte Urteil, durch das sie zur Rückauflassung eines Grundstücks an die Kläger verurteilt worden sind, fristgerecht Berufung eingelegt. Nachdem der Vorsitzende des Berufungssenats mit Verfügung vom 19. Februar 2021 darauf hingewiesen hatte, dass die Berufung nicht innerhalb der am 16. Februar 2021 abgelaufenen Frist begründet worden sei, haben die Beklagten am 4. März 2021 die Berufung begründet und zugleich wegen Versäumung der Frist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, die zuständige Kanzleimitarbeiterin habe dem Prozessbevollmächtigten die Akten zur Fertigung der Berufungsbegründung eine Woche vor Fristablauf im üblichen Geschäftsgang vorgelegt, ohne dass das Datum des Fristablaufs auf der Akte vermerkt gewesen sei. Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 23. März 2021 den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Mit Schriftsatz vom 6. April 2021 haben die Beklagten die Verletzung der Hinweispflicht gerügt und einen auf ergänzenden Vortrag gestützten Wiedereinsetzungsantrag gestellt, den das Berufungsgericht am 22. April 2021 zurückgewiesen hat. Die Beklagten haben zudem Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss vom 23. März 2021 eingelegt. Der Senat hat mit Beschluss vom 20. Januar 2022 (V ZB 24/21) diesen Beschluss des Berufungsgerichts aufgehoben, weil er keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen enthielt, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht hat nach der Zurückverweisung den Wiedereinsetzungsantrag vom 4. März 2021 erneut zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 2
Das Berufungsgericht meint, Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil die Beklagten eine ohne ihr Verschulden eingetretene Versäumung der Frist nicht glaubhaft gemacht hätten. Unabhängig von der Frage, ob dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten ein Organisationsverschulden anzulasten oder für die Fristversäumnis der Fehler einer Kanzleimitarbeiterin ursächlich geworden sei, müssten sich die Beklagten ein eigenes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten hinsichtlich der Fristversäumung gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Hätte dieser, wie geboten, innerhalb einer Woche einen Blick in die ihm als nicht fristgebunden vorgelegte Akte geworfen, hätte er unschwer feststellen können, dass die Berufungsbegründung bis zum 16. Februar 2021 einzureichen gewesen wäre. Dabei sei davon auszugehen, dass die Kanzleimitarbeiterin dem Prozessbevollmächtigen die Akte am 9. Februar 2021 zur Bearbeitung vorgelegt habe. Das sei aus der anwaltlichen Versicherung und der eidesstattlichen Versicherung der Kanzleimitarbeiterin vom 4. März 2021 zu schließen, wonach die Kanzleimitarbeiterin entgegen der in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten bestehenden Anweisung nur die Vorfrist, nicht aber auch den Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist notiert habe mit der Folge, dass die Akte eine Woche vor dem Fristablauf im üblichen Geschäftsgang ohne den Fristenvermerk vorgelegt worden sei.
Rz. 3
Soweit der Prozessbevollmächtigte der Beklagten in dem erneuten Wiedereinsetzungsantrag vom 6. April 2021 an Eides Statt versichere, ihm seien die Akten nicht vor dem 11. Februar 2021 vorgelegt worden, und er habe entgegen seiner früheren Äußerung den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht erst durch die gerichtliche Verfügung vom 19. Februar 2021, sondern bereits davor bemerkt, sei dies unglaubhaft. Auf die Erklärungsbedürftigkeit habe der Berufungssenat am 18. März 2022 hingewiesen. Die Beklagten hätten gleichwohl keine Erklärung für die abweichende Schilderung des Geschehensablaufs gegeben. Die Unstimmigkeiten seien insbesondere nicht durch den Vortrag ausgeräumt worden, dass die zuständige Mitarbeiterin am 9. Februar 2021 nicht im Dienst gewesen sei. Aufgrund der Widersprüche bestünden erhebliche Zweifel an dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit der Folge der fehlenden Glaubhaftmachung des Entschuldigungsgrundes gemäß § 233 ZPO.
III.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 5
1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Beschluss verletzt die Beklagten in ihrem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip), welches es den Gerichten verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2017 - V ZB 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 5 mwN; Beschluss vom 12. September 2013 - V ZB 187/12, juris Rn. 5, 9).
Rz. 6
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Beklagten haben es zwar versäumt, ihre Berufung innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist zu begründen (§ 520 Abs. 1, 2 ZPO). Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann jedoch ein den Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten (§ 233 Satz 1 ZPO) nicht angenommen und eine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist nicht versagt werden.
Rz. 7
a) Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Den Rechtsanwalt, dem aufgrund eines Büroversehens eine Fristsache als nicht fristgebunden vorgelegt wird, trifft ein Verschulden an der Versäumung der Rechtsmittelbegründungsfrist, wenn er sich nicht in angemessener Zeit durch einen Blick in die Akten wenigstens davon überzeugt, was zu tun ist und wie lange er sich mit der Bearbeitung Zeit lassen kann. Er darf die ihm vorgelegten Akten jedenfalls nicht eine Woche lang gänzlich unbeachtet lassen (BGH, Beschluss vom 3. November 1997 - VI ZB 47/97 - VersR 1998, 342; Beschluss vom 29. März 2011 - VI ZB 25/10, NJW 2011, 1600 Rn. 9). Den Beklagten könnte somit Wiedereinsetzung nicht gewährt werden, wenn dem Prozessbevollmächtigen die Akte vor Ablauf des 9. Februar 2021 vorgelegt worden wäre. Denn dann hätte er spätestens am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist, dem 16. Februar 2021, die Akte einsehen müssen. Bei der gebotenen Einsicht hätte er den drohenden Ablauf der Begründungsfrist bemerken und eine Fristverlängerung (§ 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO) beantragen können.
Rz. 8
b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch der eidesstattlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 6. April 2021, wonach die Akten ihm nicht vor dem 11. Februar 2021 vorgelegt worden seien, keinen Glauben geschenkt, ohne den Beklagten Gelegenheit zu geben, den Beweis für dieses Vorbringen zu führen. Damit hat es, wie die Rechtsbeschwerde zurecht rügt, die Beklagten in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG).
Rz. 9
aa) Nach § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO muss die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragende Partei die zur Begründung der Wiedereinsetzung vorgetragenen Tatsachen glaubhaft machen. Eine Behauptung ist schon dann im Sinne von § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2, § 294 ZPO glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft, also letztlich mehr für das Vorliegen der in Rede stehenden Behauptung spricht als dagegen. Die Feststellung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit unterliegt dem Grundsatz der freien Würdigung des gesamten Vorbringens, die grundsätzlich Sache des Tatrichters ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 - VI ZB 5/17, NJW-RR 2018, 958 Rn. 12; Beschluss vom 2. August 2022 - VIII ZB 3/21, juris Rn. 15, jeweils mwN; Beschluss vom 26. Januar 2022 - XII ZB 227/21, FamRZ 2022, 647 Rn. 11). Dabei ist grundsätzlich von der Richtigkeit einer anwaltlichen Versicherung auszugehen. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte es ausschließen, den geschilderten Sachverhalt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als zutreffend zu erachten (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 - VI ZB 5/17, NJW-RR 2018, 958 Rn. 12; Beschluss vom 18. Dezember 2019 - XII ZB 379/19, NJW-RR 2020, 501 Rn. 12; Beschluss vom 2. August 2022 - VIII ZB 3/21, juris Rn. 15 mwN).
Rz. 10
bb) Dass das Berufungsgericht aus dem Parteivorbringen den Schluss gezogen hat, die Vorlage der Akte nicht vor dem 11. Februar 2021 sei nicht überwiegend wahrscheinlich, ist allerdings nicht zu beanstanden. Die Beklagten haben ihr Vorbringen zum Wiedereinsetzungsgrund nämlich geändert. Mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 4. März 2021 haben sie geltend gemacht, ihrem Prozessbevollmächtigten seien die Akten eine Woche vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden. Obwohl kein konkretes Vorlagedatum genannt war, durfte das Berufungsgericht dies so verstehen, dass die Akte dem Prozessbevollmächtigten am 9. Februar 2021 (eine Woche vor dem Fristablauf am 16. Februar 2021) vorgelegt worden war. Auch hinsichtlich des Zeitpunkts, wann der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Fristversäumnis bemerkt haben will, haben die Beklagten unterschiedlich vorgetragen. Anders als in dem Wiedereinsetzungsantrag vom 4. März 2021 geltend gemacht, soll der Prozessbevollmächtigte nicht erst durch die gerichtliche Verfügung vom 19. Februar 2021, sondern bereits davor den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist bemerkt haben. Das Berufungsgericht hätte zwar nicht, wie geschehen, am 22. April 2021 erneut über die Wiedereinsetzung entscheiden dürfen, weil der die Wiedereinsetzung versagende Beschluss vom 4. März 2021 der Rechtsbeschwerde unterlag und in entsprechender Anwendung von § 318 ZPO unabänderlich und damit grundsätzlich bindend war (zur Bindung des Rechtsmittelgerichts vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 6/18, NJW 2018, 3388 Rn. 10; Beschluss vom 18. Januar 1995 - IV ZB 22/94, NJW-RR 1995, 765); ihm durften aber nach der Zurückverweisung und bei der erneuten Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag vom 4. März 2021 wegen des wechselnden Vorbringens Zweifel an der Glaubhaftmachung kommen.
Rz. 11
cc) Das Berufungsgericht hätte es dabei aber nicht bewenden lassen und die Wiedereinsetzung versagen dürfen.
Rz. 12
(1) Will das Berufungsgericht einer eidesstattlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben schenken, muss es die Partei darauf hinweisen und ihr Gelegenheit geben, entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Februar 2010 - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 10 mwN). Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich nach § 294 Abs. 1 ZPO aller Beweismittel bedienen. Das Berufungsgericht hat deshalb zu prüfen, ob in der Vorlage der eidesstattlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten zugleich ein Beweisangebot auf Vernehmung des Rechtsanwalts als Zeugen zu den darin genannten Tatsachen liegt. Dann liefe die Ablehnung der Wiedereinsetzung ohne die vorherige Vernehmung der Zeugen auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinaus (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2007 - VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069 Rn. 15; Beschluss vom 22. Dezember 2011 - VII ZB 35/11, NJW-RR 2012, 509, 510 Rn. 12; Beschluss vom 25. November 2020 - XII ZB 200/20, MDR 2021, 443 Rn. 19; jeweils mwN).
Rz. 13
(2) So ist es hier. Die Beklagten haben auf den Hinweis des Berufungsgerichts vom 18. März 2022 mit Schriftsatz vom 19. April 2022 ausdrücklich ihr anwaltlich versichertes Vorbringen vom 6. April 2021 wiederholt und geltend gemacht, dass die Ablehnung der Wiedereinsetzung auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinausliefe. Das kann nur als konkludentes Beweisangebot auf Vernehmung des Prozessbevollmächtigten als Zeugen zu den in der eidessstattlichen Versicherung vom 6. April 2021 genannten Tatsachen verstanden werden. Den Beweis hätte das Berufungsgericht erheben müssen.
Rz. 14
3. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben. Da es noch weiterer tatsächlicher Aufklärung bedarf, ist die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Dieses wird die Frage der Glaubhaftmachung einer im Sinne von § 233 Satz 1 ZPO unverschuldeten Versäumung der Berufungsbegründungsfrist unter Vernehmung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten als Zeugen neu zu prüfen haben.
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Fundstellen