Leitsatz (amtlich)
a) Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstands den für eine Wertberufung erforderlichen Betrag von 600 EUR erreicht, ist das Berufungsgericht nicht an eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden. Daran hat sich durch das ZPO-Reform-Gesetz nichts geändert.
b) Will das Berufungsgericht von der Festsetzung des Streitwerts durch das erstinstanzliche Gericht abweichen und den Streitwert und mit diesem die Beschwer niedriger ansetzen, muss es den Kläger nach §§ 525, 139 Abs. 2, 3 ZPO darauf hinweisen und ihm Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern.
Normenkette
ZPO § 511 Abs. 2, § 522 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Köln (Aktenzeichen 11 S 165/03) |
AG Köln |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 11. Zivilkammer des LG Köln v. 23.7.2003 wird auf Kosten der Kläger zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 100 EUR.
Gründe
I.
Die Kläger verlangen von den Beklagten, es zu unterlassen, Werbeprospekte und anderes Werbematerial für seine Pizzeria in die Briefkästen ihres Hauses einzuwerfen. Mit am 12.6.2003 zugestelltem Urteil hat das AG K. die Klage abgewiesen und darin den Streitwert auf 2.000 EUR festgesetzt. Gegen dieses Urteil haben die Kläger fristgerecht Berufung eingelegt, die sie auch fristgerecht begründet haben. Mit Beschl. v. 2.7.2003 hat das LG den Streitwert auf 100 EUR abgeändert. Dieser Beschluss hat die Kläger erst am 30.12.2003 erreicht.
Mit einem ebenfalls erst am 30.12.2003 zugestellten Beschl. v. 23.7.2003 hat das LG die Berufung der Kläger wegen Verfehlens des Berufungswerts von 600 EUR als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Kläger, mit der sie die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erreichen und ihre Berufung weiterverfolgen möchten.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, wenn das Beschwerdegericht Verfahrensgrundrechte, namentlich das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), verletzt hat (BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [226] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; BGH v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 [296 f.] = BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822) und die angefochtene Entscheidung hierauf beruht (BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [227] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207). Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Die Kläger konnten davon ausgehen, dass ihre Berufung gegen das Urteil des AG kraft Gesetzes zulässig war, weil das AG den Streitwert auf 2.000 EUR festgesetzt hatte und sich hieraus eine Beschwer der Kläger in demselben Umfang ergab. Wollte das Berufungsgericht hiervon abweichen und die Beschwer niedriger ansetzen, musste es die Kläger nach §§ 525, 139 Abs. 2, 3 ZPO darauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern (vgl. Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., Aktualisierungsbd., § 511 Rz. 57). Das ist nicht geschehen. Damit aber blieb den Klägern das von Verfassungs wegen zu gewährende rechtliche Gehör zur Frage des Werts des Beschwerdegegenstands versagt. Dieser Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs führt, anders als im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, unabhängig davon zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde, ob er sich auf das Ergebnis auswirkt (BGH, Beschl. v. 25.7.2002 - V ZR 118/02, BGHReport 2002, 941 = MDR 2002, 1389 = NJW 2002, 3180 [3181]; Urt. v. 18.7.2003 - V ZR 187/02, BGHReport 2003, 1231 = MDR 2004, 48 = NJW 2003, 3205; Beschl. v. 19.12.2002 - VII ZR 101/02, MDR 2003, 468 = BGHReport 2003, 347 = NJW 2003, 831; Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, BGHReport 2004, 266 = MDR 2004, 408 = NJW 2004, 367 [368]). Darauf, ob die Rechtsbeschwerde auch unter anderen Gesichtspunkten zulässig war, kommt es nicht an.
2. Die Rechtsbeschwerde ist aber nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Kläger zu Recht als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 EUR nicht übersteigt.
a) Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstands den für eine Wertberufung erforderlichen Betrag von 600 EUR erreicht, ist das Berufungsgericht nicht an eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden (BGH, Beschl. v. 16.12.1987 - IVb ZB 124/87, NJW-RR 1988, 836 [837]; Beschl. v. 25.9.1991 - XII ZB 61/91, FamRZ 1992, 169 [170]; Urt. v. 20.10.1997 - II ZR 334/96, MDR 1998, 557 = NJW-RR 1998, 573; v. 24.4.1998 - V ZR 225/97, MDR 1998, 982 = NJW 1998, 2368; Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, ZPO, 60. Aufl., § 511 Rz. 19; Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., Aktualisierungsbd., § 511 Rz. 58; Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 511 Rz. 20a). Es stellt den Wert des Beschwerdegegenstandes vielmehr im Rahmen der ihm von Amts wegen obliegenden Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 522 Abs. 1 S. 1 ZPO nach eigenem freiem Ermessen fest.
b) Daran hat sich durch das ZPO-Reform-Gesetz nichts geändert. Allerdings ist die Berufung, anders als bisher, nicht schlechthin unzulässig, wenn der Berufungswert von 600 EUR verfehlt wird. In einem solchen Fall ist die Berufung vielmehr durch das Gericht erster Instanz zuzulassen, wenn einer der in § 511 Abs. 4 ZPO bestimmten Zulassungsgründe vorliegt. Zu einer Entscheidung darüber gelangt das erstinstanzliche Gericht aber nicht, wenn es, z.B. nach entsprechender eigener Streitwertfestsetzung, wie hier, annimmt, die Berufung sei im Hinblick auf den Wert nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zulässig. Dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, dass bei unrichtiger Streitwertfestsetzung durch das Gericht erster Instanz der Berufungswert in der Sache nicht erreicht ist.
c) Die Bewertung des Beschwerdegegenstands mit (75 EUR Unterlassung zzgl. 25 EUR =) 100 EUR ist nicht zu beanstanden.
aa) Der Wert des Unterlassungsantrags der Kläger war vom Berufungsgericht gem. § 3 ZPO nach freiem Ermessen festzusetzen. Eine solche Festsetzung kann im Rechtsbeschwerdeverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. zur Revision: BGH, Beschl. v. 30.11.1983 - VIII ZR 243/82, WM 1984, 180; Beschl. v. 13.3.1985 - IVa ZB 2/85, MDR 1986, 38 = NJW 1986, 1493; Beschl. v. 15.3.1989 - VIII ZR 300/88, MDR 1989, 732 = NJW-RR 1989, 82; Urt. v. 24.4.1998 - V ZR 225/97, MDR 1998, 982 = NJW 1998, 2368).
bb) Die Wertfestsetzung durch das Berufungsgericht lässt einen derartigen Rechtsfehler nicht erkennen.
(1) Das Berufungsgericht hat den Wert des Beschwerdegegenstands nur indirekt, nämlich in seinem Streitwertbeschluss v. 2.7.2003, und darin auch nur sehr knapp begründet. Eine knappe Begründung allein stellt die Wertfestsetzung aber nicht in Frage (BGH, Beschl. v. 13.10.1982 - IVb ZB 154/82, MDR 1983, 214 = NJW 1983, 123). Entscheidend ist vielmehr, ob die Begründung die Beurteilung erlaubt, dass das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen gesetzmäßigen Gebrauch gemacht und alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat (BGH, Beschl. v. 4.10.1990 - XII ZB 37/90, NJW-RR 1991, 325 [326]). Das ist hier der Fall. In seiner knappen Begründung hat das Berufungsgericht den für die geringe Bewertung des Rechtsverfolgungsinteresses der Kläger entscheidenden Gesichtspunkt angeführt, nämlich dass die Kläger einen singulären Vorfall zum Anlass ihrer Klage genommen und zu etwaigen Weiterungen nichts vorgetragen haben. Aus diesem Umstand ergab sich auch, dass das Unterlassungsinteresse der Kläger kaum messbar, jedenfalls aber nur mit einem ganz geringen Wert anzusetzen war.
(2) Dem Berufungsgericht lässt sich entgegen der Ansicht der Kläger auch nicht entgegenhalten, es habe nicht alle Gesichtspunkte berücksichtigt. Denn das Berufungsgericht hatte nur das Interesse an der Unterlassung der Störung zu bewerten, die die Kläger zum Gegenstand ihrer Klage gemacht hatten; ob auch andere Störungen denkbar waren, brauchte es nicht zu berücksichtigen (BGH, Urt. v. 24.4.1998 - V ZR 255/97, NJW 1998, 2368). Die Kläger klagen als Wohnungseigentümer und haben auf Seite 2 der Klagebegründung ausdrücklich ausgeführt, dass sie eine Störung ihres Eigentums geltend machen wollten. Auf eine Störung der Persönlichkeitsrechte einzelner Wohnungseigentümer haben sie sich weder dort noch später berufen.
(3) Unerheblich ist schließlich auch der Hinweis der Kläger in der Begründung ihrer Rechtsbeschwerde, es sei am 7.2.2004 zu einem erneuten Verstoß gekommen. Ob der Berufungswert erreicht ist, bestimmt sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Berufungseinlegung (BGH, Beschl.v. 8.10.1982 - V ZB 9/82, MDR 1983, 388 = NJW 1983, 1063; Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 511 Rz. 14), hier dem 22.6.2003. Es kann deshalb auch offen bleiben, ob das Hinzutreten eines weiteren singulären Vorfalls nach einem weiteren Jahr an der grundsätzlichen Bewertung des Unterlassungsinteresses der Kläger etwas ändern könnte.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 1209791 |
BGHR 2004, 1643 |
FamRZ 2004, 1638 |
NJW-RR 2005, 219 |
WuM 2004, 565 |
AGS 2004, 487 |
ProzRB 2005, 97 |