Leitsatz (amtlich)
Zieht das Beschwerdegericht in einer Unterbringungssache für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 7.12.2016 - XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477).
Normenkette
FamFG §§ 68, 319
Verfahrensgang
LG Hannover (Beschluss vom 27.10.2020; Aktenzeichen 3 T 56/20) |
AG Hannover (Beschluss vom 05.06.2020; Aktenzeichen 662 XVII G 6446) |
Tenor
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen für die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Hannover vom 5.6.2020 und der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Hannover vom 27.10.2020 (3 T 56/20) den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte Genehmigung der Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung.
Rz. 2
Nach Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen S. vom 2.6.2020 hat das AG mit Beschluss vom 5.6.2020 die Unterbringung des 1974 geborenen Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens zum 4.6.2021 genehmigt. Hiergegen hat sich der Betroffene mit seiner Beschwerde gewendet. Das LG hat im Beschwerdeverfahren zunächst ein weiteres schriftliches Gutachten eingeholt, welches die in der Einrichtung tätige Oberärztin Ö. am 5.8.2020 vorgelegt hat. Nach Anhörung des Betroffenen durch die Berichterstatterin am 6.8.2020 hat das LG ein neues psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, welches von dem Sachverständigen B. am 1.10.2020 erstattet worden ist. Mit Beschluss vom 27.10.2020 hat das LG die Höchstdauer der Unterbringung auf den 1.2.2021 verkürzt und die Beschwerde im Übrigen zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf der Unterbringungsfrist die Feststellung, durch die Beschlüsse des AG und des LG in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des AG und des LG, weil diese den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. BGH, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20 FamRZ 2021, 462 Rz. 6 m.w.N.) festzustellen ist.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung der Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB grundsätzlich gegeben seien. Der Betroffene leide an einer schweren strukturellen und kognitiven Störung auf dem Boden eines amnestischen Syndroms bei langjährigem Alkoholmissbrauch. Der Sachverständige B. habe aufgezeigt, dass sich der Betroffene zu Beginn seines stationären Aufenthalts in einer lebensbedrohlichen Situation befunden habe, die durch eine intensivmedizinische Behandlung der internistischen Grunderkrankung (Diabetes) stabilisiert worden sei. Aufgrund seiner psychopathologischen Auffälligkeiten sei der Betroffene nicht in der Lage, derzeitig ein eigenständiges selbstverantwortetes Leben zu führen. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Betroffene zu Hause wohne und er dort jedenfalls von seiner Mutter mit Alkohol und zuckerhaltigen Lebensmitteln versorgt würde, bestehe außerhalb der Unterbringung die zwangsläufige Gefahr einer umgehenden Verschlechterung seiner internistisch-gastroenterologischen und seiner psychiatrischen Situation. Auch im Hinblick auf die in der Unterbringung bereits erzielten Fortschritte sei eine weitere Unterbringung für die Dauer von vier Monaten angezeigt.
Rz. 5
2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde, dass das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft von einer erneuten Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren abgesehen hat.
Rz. 6
a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Vorschrift sichert im Unterbringungsverfahren nicht nur den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör. Durch sie soll auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor der Entscheidung über den mit einer Unterbringung verbundenen erheblichen Grundrechtseingriff einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, durch den es insb. in die Lage versetzt wird, ein eingeholtes Sachverständigengutachten würdigen zu können (vgl. BGH, Beschl. v. 7.12.2016 - XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rz. 5).
Rz. 7
Die Anhörungspflichten nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG gelten gem. § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse zu erwarten, und es ist eine Wiederholung der Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten (vgl. BGH, Beschl. v. 7.12.2016 - XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rz. 6 m.w.N.).
Rz. 8
b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht absehen. Es hat seine Entscheidung maßgeblich auf das von ihm eingeholte Gutachten des Sachverständigen B. vom 1.10.2020 gestützt. Die Untersuchung des Betroffenen durch den Sachverständigen B. erfolgte zu einem Zeitpunkt, als - wie das Gutachten konzediert - in der internistischen und psychiatrischen Situation des Betroffenen durch die Unterbringung bereits "Fortschritte" erzielt worden seien. Auch aus diesem Grund konnte der von der Berichterstatterin bei der ersten Anhörung am 6.8.2020 gewonnene Eindruck von dem Betroffenen keine ausreichende Grundlage mehr dafür darstellen, das zeitlich nachfolgende Gutachten des Sachverständigen B. kritisch nachvollziehen und würdigen zu können.
Rz. 9
3. Die Entscheidung des AG wird den materiellen Anforderungen an die Genehmigung einer zivilrechtlichen Unterbringung nicht gerecht.
Rz. 10
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist allerdings eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten, aber objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens. Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist Sache des Tatrichters. Sie baut im Wesentlichen auf der Anhörung des Betroffenen und der weiteren Beteiligten sowie auf dem nach § 321 FamFG einzuholenden Sachverständigengutachten auf (vgl. BGH v. 24.5.2017 - XII ZB 577/16 FamRZ 2017, 1342 Rz. 10 f.; v. 5.3.2014 - XII ZB 58/12 FamRZ 2014, 831 Rz. 9 f.). Die Begründung darf sich auch bei wiederholt untergebrachten Betroffenen nicht auf formelhafte Wendungen beschränken, sondern muss die Tatbestandsvoraussetzungen im jeweiligen Einzelfall durch die Angabe von Tatsachen konkret nachvollziehbar machen (BGH, Beschl. v. 5.3.2014 - XII ZB 58/12 FamRZ 2014, 831 Rz. 14).
Rz. 11
b) Das AG hat - über die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB hinaus - keine Umstände festgestellt, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass sich der Betroffene erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügen werde, wenn die Unterbringung unterbleibt. Im erstinstanzlich eingeholten Gutachten der Sachverständigen S. vom 2.6.2020 finden sich zwar Ausführungen dazu, dass der Betroffene nicht in der Lage sei, sich ausreichend zu ernähren, auf seinen Blutzucker zu achten und Insulin zu spritzen. Ob dies im konkreten Fall die Unterbringung wegen Eigengefährdung gerechtfertigt hätte, braucht aber schon deshalb nicht erörtert zu werden, weil die amtsgerichtliche Entscheidung insoweit keinen Bezug auf das Sachverständigengutachten nimmt.
Rz. 12
c) Die Ausführungen des Beschwerdegerichts zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB konnten die materiell-rechtlichen Mängel der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht heilen, weil sie ihrerseits - wie bereits dargelegt - auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen beruhen.
Rz. 13
4. Der Betroffene ist durch die Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden. Die Feststellung, dass ein Betroffener durch angefochtene Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann nicht nur auf der Verletzung materiellen Rechts, sondern grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet (vgl. BGH, Beschl. v. 7.12.2016 - XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rz. 9 ff. m.w.N.).
Rz. 14
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Genehmigung der Unterbringung feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff i.S.v. § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. BGH, Beschl. v. 2.12.2020 - XII ZB 291/20 FamRZ 2021, 462 Rz. 21 m.w.N.).
Rz. 15
5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Fundstellen
FGPrax 2021, 172 |
JZ 2021, 545 |
MDR 2021, 1153 |
FF 2021, 375 |
FamRB 2021, 9 |