Leitsatz (amtlich)

Auch bei einem nach § 154 f StPO eingestellten Verfahren bedarf es des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.

 

Normenkette

AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Kleve (Beschluss vom 12.10.2017; Aktenzeichen 4 T 129/17)

AG Kleve (Beschluss vom 17.05.2017; Aktenzeichen 22 XIV (B) 18/17)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Kleve vom 12.10.2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste Anfang 2016 nach Deutschland ein und stellte unter einem Aliasnamen einen Asylantrag. Dieser wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt und die Abschiebung angedroht. Ende 2017 wurde der Betroffene in den Niederlanden aufgegriffen und nach Deutschland überstellt. Mit Beschluss vom 17.5.2017 hat das AG Haft bis zum 31.7.2017 zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen angeordnet. Die nach seiner Abschiebung nach Marokko am 10.8.2017 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.

II.

Rz. 2

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung rechtmäßig. Es liege der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG vor.

III.

Rz. 3

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Haftrichter und das Beschwerdegericht haben nicht aufgeklärt (§ 26 FamFG), ob § 72 Abs. 4 AufenthG der Abschiebung des Betroffenen entgegenstand.

Rz. 4

1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gem. § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt das Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschl. v. 27.9.2017 - V ZB 26/17, juris Rz. 4 m.w.N.).

Rz. 5

2. Ob § 72 Abs. 4 Satz 1 AufentG einer Abschiebung des Betroffenen entgegenstand, haben der Haftrichter und das Beschwerdegericht nur unzureichend geprüft. Die Haftanordnung verhält sich zur Frage des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft oder dessen Entbehrlichkeit nicht. Das Beschwerdegericht führt lediglich aus, es sei weder dargetan noch ersichtlich, dass die Voraussetzungen für die Notwendigkeit des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft vorliegen. Ob es sich tatsächlich so verhielt, hätten der Haftrichter und das Beschwerdegericht anhand der über den Betroffenen geführten Ausländerakte prüfen müssen (vgl. Senat, Beschl. v. 12.10.2016 - V ZB 8/15, juris Rz. 15). Die Prüfung hätte ergeben, dass sich - worauf die Rechtsbeschwerde zu Recht hinweist - in der Ausländerakte ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 24.4.2017 befindet, in dem diese mitteilt, dass sie ein gegen den Betroffenen wegen Diebstahls geführtes Ermittlungsverfahren nach § 154 f StPO eingestellt habe. Auch ein nach dieser Vorschrift eingestelltes Verfahren ist von dem Zustimmungserfordernis nach § 72 Abs. 4 AufentG erfasst. Bei der Einstellung nach § 154 f StPO handelt es sich um eine nur vorläufige Einstellung des Verfahrens vor Erhebung der öffentlichen Klage wegen längerer Abwesenheit des Beschuldigten oder eines anderen in seiner Person liegenden Hindernisses. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind lediglich unterbrochen und werden bei Wegfall des Hindernisses fortgesetzt (vgl. KK-StPO/Diemer, StPO, 7. Aufl., § 154 f Rz. 1). Angesichts des nur vorläufigen Charakters bedarf es daher auch bei einem nach § 154 f StPO eingestellten Verfahren für eine Abschiebung des Betroffenen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft (vgl. NK-AuslR/R. Hofmann, AufenthG, 2. Aufl., § 72 Rz. 34), es sei denn, es liegt eine Ausnahme gem. § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG vor.

IV.

Rz. 6

Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Dieses wird aufzuklären haben, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Betroffenen vorlag oder ob es ausnahmsweise gem. § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG entbehrlich war. Dabei ist zu beachten, dass eine "begleitende" Straftat i.S.v. § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG nur vorliegt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt und einer Straftat nach § 95 AufenthG oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht (vgl. hierzu Senat, Beschl. v. 19.7.2018 - V ZB 179/15, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird (vgl. Senat Beschl. v. 27.9.2017 - V ZB 26/17, juris Rz. 9).

 

Fundstellen

Haufe-Index 12088283

FGPrax 2019, 43

InfAuslR 2018, 418

JZ 2018, 742

JZ 2018, 751

ZAR 2019, 204

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