Leitsatz (amtlich)
Sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen von vergleichbarem Gewicht, aus denen sich ein konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr ergeben kann, erfordern bestimmte Handlungen des Ausländers, die auf seine Absicht hindeuten, sich der Abschiebung zu entziehen, und auch objektiv einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung einer möglichen Flucht darstellen.
Normenkette
AufenthG 2015 § 2 Abs. 14 Nr. 6, Abs. 15 S. 1; Dublin-III-VO Art. 2 Buchst. n, Art. 28 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Stade (Beschluss vom 02.06.2017; Aktenzeichen 9 T 56/17) |
AG Otterndorf (Entscheidung vom 17.05.2017; Aktenzeichen 3 XIV 753 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des LG Stade vom 2.6.2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste am 14.12.2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen vier minderjährigen Kindern nach Deutschland ein. Aufgrund bereits zuvor in Polen gestellter Anträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylanträge des Betroffenen und seiner Familie mit Bescheiden vom 12.1.2017 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Polen an.
Rz. 2
Der Betroffene beantragte eine Duldung und erhob gegen ihre Ablehnung Klage. Das VG lehnte den Antrag des Betroffenen und seiner Familie auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, von einer Rücküberstellung vorläufig bis zur Entscheidung über die Klage abzusehen, mit Beschluss vom 15.5.2017 ab. Am 17.5.2017 scheiterte ein Versuch, den Betroffenen und seine Familie nach Polen zu überstellen, daran, dass ein Sohn des Betroffenen nicht angetroffen wurde.
Rz. 3
Das AG hat auf Antrag der beteiligten Behörde gegen den Betroffenen am 17.5.2017 Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG in der bis 28.7.2017 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) bis einschließlich 7.6.2017 angeordnet. Auf die Beschwerde des Betroffenen hat das LG Stade festgestellt, dass die angeordnete Sicherungshaft den Betroffenen bis zu seiner Anhörung durch die Zivilkammer des LG am 2.6.2017 in seinen Rechten verletzt habe. Im Übrigen hat es die Beschwerde zurückgewiesen.
Rz. 4
Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt hat, wendet sich der Betroffene gegen die teilweise Zurückweisung seiner Beschwerde und begehrt die Feststellung, dass ihn die Haftanordnung auch für den Zeitraum ab dem 2.6.2017 in seinen Rechten verletzt habe.
Rz. 5
II. Die statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
Rz. 6
1. Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung bis zur Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht am 2.6.2017 als rechtswidrig, ab diesem Zeitpunkt als rechtmäßig angesehen. Grundlage für die Sicherung der Rücküberstellung nach Polen sei Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) i.V.m. § 2 Abs. 15 AufenthG a.F. und nicht, wie vom AG angenommen, § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG a.F. Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO setze eine erhebliche Fluchtgefahr voraus, die hier gegeben sei. Der Betroffene habe den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht preisgegeben. Aufgrund des Insistierens der Ausländerbehörde habe er sich darüber im Klaren sein müssen, dass sein Sohn für die Abschiebung der Familie nach Polen zugegen sein müsse. Es sei auch nicht willkürlich gewesen, den Betroffenen - und nicht etwa seine Ehefrau - in Haft zu nehmen, denn der Betroffene habe sich geweigert, den Aufenthaltsort des Sohnes zu nennen.
Rz. 7
2. Hiergegen wendet sich die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg.
Rz. 8
a) Entgegen ihrer Ansicht entspricht § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F., auf den § 2 Abs. 15 Satz 1 AufenthG a.F. verweist, den Anforderungen des Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedarf es nicht.
Rz. 9
aa) Da Art. 2 Buchst. n Dublin-III-Verordnung keine inhaltlichen Vorgaben für die vom Gesetzgeber objektiv festzulegenden Kriterien für eine Fluchtgefahr macht und die Regelung des § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. den Anforderungen des Unionsgerichtshofs in seinem Urteil vom 15.3.2017 (EuGH, Urt. v. 15.3.2017 - C-528/15, InfAuslR 2017, 193) genügt, stellt sich - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - keine Frage der Auslegung des Unionsrechts, die einer Vorlage an den Gerichtshof bedürfte (vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - 283/81, NJW 1983, 1257, 1258 - CILFIT).
Rz. 10
bb) Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO definiert, was unter dem Begriff der Fluchtgefahr, wie er in Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO enthalten ist, zu verstehen ist. Fluchtgefahr bedeutet das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren durch Flucht entziehen könnte.
Rz. 11
Die Mitgliedstaaten sind aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet, in einer zwingenden Vorschrift mit allgemeiner Geltung die objektiven Kriterien festzulegen, auf denen die Gründe beruhen, die zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen wird (EuGH, Urt. v. 15.3.2017 - C-528/15, InfAuslR 2017, 193 Rz. 47). Die Dublin-III-VO gibt jedoch nicht vor, welche objektiven Kriterien im Einzelnen der nationale Gesetzgeber festzulegen hat oder festlegen kann.
Rz. 12
cc) § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 AufenthG a.F. erfüllt diese Voraussetzungen. § 2 Abs. 15 Satz 1 AufenthG a.F. verweist wegen der in Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO geforderten objektiven Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr auf die in § 2 Abs. 14 AufenthG a.F. genannten Anhaltspunkte.
Rz. 13
(1) Nach § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. kann ein konkreter Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer, um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen vorgenommen hat, die ein den in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 5 AufenthG a.F. genannten Gesichtspunkten vergleichbares Gewicht haben. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn bestimmte Handlungen auf eine Absicht des Ausländers hindeuten, sich der Abschiebung zu entziehen, und auch objektiv einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung einer möglichen Flucht darstellen. Zudem dürfen die Vorbereitungshandlungen nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden können.
Rz. 14
(2) Dass es aufgrund dieser abstrakten Kriterien in jedem Einzelfall einer Wertung bedarf, ob die vom Gericht festgestellten Vorbereitungshandlungen den Anforderungen des § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. genügen, steht der Annahme, dass § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 Nr. 6 AufenthG den Anforderungen des Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO genügt, nicht entgegen. Da Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO keine Kriterien benennt, die gesetzlich festzulegen sind, kann der Gesetzgeber auch objektive Kriterien festlegen, die einer Wertung bedürfen (vgl. zu § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG a.F. BGH, Beschl. v. 16.2.2017 - V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253; a.A. Beichel-Benedetti in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl., § 2 Rz. 37).
Rz. 15
b) Das Beschwerdegericht hat zu Recht das Vorliegen eines Haftgrundes nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. bejaht.
Rz. 16
Die Annahme des Beschwerdegerichts, dass die Nichtpreisgabe des Aufenthaltsorts des Sohnes eine konkrete Vorbereitungshandlung von vergleichbarem Gewicht für eine Flucht des Betroffenen i.S.d. § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. darstellt, die auch in der Gesamtbetrachtung aller Umstände dieses Falles die Bejahung einer erheblichen Fluchtgefahr rechtfertigt, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
Rz. 17
aa) Nach dem Wortlaut der Vorschrift und der Begründung des Regierungsentwurfs (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/4097, 34) stellen die in § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 AufenthG a.F. geregelten Anhaltspunkte lediglich ein Indiz dafür dar, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr besteht. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf immer einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/4097, 32 und 34; BGH, Beschl. v. 16.2.2017 - V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253 Rz. 9).
Rz. 18
bb) Das Beschwerdegericht hat hierzu ausgeführt, dass der Betroffene, indem er den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht preisgegeben habe, die Abschiebung habe vereiteln wollen. Die beteiligte Behörde hatte in ihrem Haftantrag, auf den das Beschwerdegericht Bezug genommen hat, mitgeteilt, es bestehe der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene nach dem gescheiterten ersten Abschiebeversuch erneut der Abschiebung entziehe wolle. Die Familie habe jedoch seit der am Vortag des ersten gescheiterten Abschiebeversuchs erfolgten Ablehnung des Eilantrags durch das VG nicht genügend Zeit gehabt, um sich eine Fluchtmöglichkeit für die komplette Familie zu überlegen. Da sie jetzt jedoch ausreichend Zeit habe, sei damit zu rechnen, dass die Familie, insb. der Betroffene, untertauche.
Rz. 19
Das Beschwerdegericht hat zu Recht angenommen, dass diese Umstände eine konkrete Vorbereitungshandlung von vergleichbarem Gewicht wie die in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 5 AufenthG a.F. geregelten Umstände darstellen, und diese Vorbereitungshandlung nicht durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden konnte. Auf dieser Grundlage hat es rechtsfehlerfrei eine erhebliche Fluchtgefahr bejaht.
Rz. 20
3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen
NVwZ 2020, 10 |
NVwZ 2020, 1296 |
InfAuslR 2020, 240 |
JZ 2020, 256 |