Leitsatz (amtlich)
Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben in einem Wiedereinsetzungsantrag, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Fristablauf mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (Anschluss BGH, Beschl. v. 25.9.2013 - XII ZB 200/13, Rz. 9).
Normenkette
ZPO § 139 Abs. 1, § 236
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Beschluss vom 17.02.2016; Aktenzeichen 6 S 197/15) |
AG Seligenstadt (Urteil vom 02.10.2015; Aktenzeichen 1 C 294/15 (2)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des LG Darmstadt vom 17.2.2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert wird auf 2.530,48 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger hat gegen das ihm am 22.10.2015 zugestellte Urteil des AG rechtzeitig Berufung eingelegt. Durch Schriftsatz vom 1.12.2015 hat der Kläger die Berufung begründet. Der Schriftsatz ist im Wege der Faxübermittlung am 23.12.2015 bei dem LG eingegangen; der mit der Post übersandte Originalschriftsatz hat das LG am 4.1.2016 erreicht. Auf den ihm am 8.1.2016 zugegangenen Hinweis des Kammervorsitzenden über den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat der Kläger mit am 22.1.2016 bei dem LG eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der bei seinem Prozessbevollmächtigten angestellten Rechtsanwaltsfachangestellten W. - ausgeführt: Sein Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründung im Anschluss an ein letztes Mandantengespräch mit ihm am 1.12.2015 um 11 Uhr fertiggestellt und nach Ausfertigung unterschrieben. Am selben Tag habe Frau W. den Schriftsatz zur Post gegeben und abgeschickt. Weil die im Fristenkalender falsch auf den 23.12.2015 eingetragene Frist trotz Erledigung nicht gestrichen worden sei, habe eine weitere Angestellte an diesem Tag zur Sicherheit beim LG angerufen, ob der Schriftsatz eingegangen sei. Da dies nicht der Fall gewesen sei, habe man die Berufungsbegründung nochmals abgeschickt.
Rz. 2
Das LG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung dieses Beschlusses und die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Rz. 4
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist gem. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Denn die angefochtene Entscheidung verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Berufungsgericht hat gegen § 139 Abs. 1 ZPO verstoßen, indem es die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs für unzureichend erachtet hat, ohne den Kläger hierauf hinzuweisen.
Rz. 5
a) Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen (BGH, Beschl. v. 20.5.2009 - IV ZB 2/08, NJW 2009, 2379 Rz. 8 m.w.N.). Wurde der Schriftsatz vom 1.12.2015 an diesem Tag vor der Postleerung in den Briefkasten eingeworfen, durfte der Kläger auf einen fristgemäßen Eingang bei dem LG am 2.12.2015 vertrauen.
Rz. 6
b) Die Partei muss im Rahmen ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist gem. § 236 Abs. 2 ZPO die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen vortragen und glaubhaft machen.
Rz. 7
aa) Hierzu gehört eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus denen sich ergibt, auf welchen konkreten Umständen die Fristversäumnis beruht. Alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, müssen grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist vorgetragen werden (§§ 234 Abs. 1, 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, dürfen jedoch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden (st.Rspr., BGH v. 29.1.2002 - VI ZB 28/01, juris Rz. 4 m.w.N.; BGH, Urt. v. 7.3.2002 - IX ZR 235/01, NJW 2002, 2107, 2108 m.w.N.; Beschlüsse v. 13.6.2007 - XII ZB 232/06, NJW 2007, 3212 Rz. 8; v. 9.2.2010 - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rz. 9; v. 21.10.2010 - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rz. 17; v. 25.9.2013 - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rz. 9).
Rz. 8
bb) Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit zur Ergänzung seines Vorbringens zu den Umständen der Postaufgabe geben müssen (§ 139 Abs. 1 ZPO).
Rz. 9
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat ausgeführt, die Berufungsbegründung sei von seiner Angestellten W. zur Post gegeben und abgeschickt worden. Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat an Eides statt versichert, den ausgefertigten und unterschriebenen Schriftsatz am 1.12.2015 zur Post gegeben zu haben, bevor sie pünktlich um 13 Uhr habe gehen müssen. Angesichts dieser Darstellung und dem zeitlichen Puffer bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 22.12.2015 durfte das LG nicht ohne ausdrücklichen Hinweis von ungenügenden Angaben zu den Umständen der Postaufgabe ausgehen (vgl. BGH, Beschl. v. 9.2.2010 - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rz. 11; v. 21.10.2010 - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rz. 18 ff.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist insb. keine Sachlage gegeben, nach der ein Hinweis nach § 139 Abs. 1 ZPO deshalb entbehrlich wäre, weil es an einem konkreten Vortrag insgesamt gefehlt hätte (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 24.1.2012 - II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rz. 12; v. 26.11.2013 - II ZB 13/12, MDR 2014, 422 Rz. 12).
Rz. 10
c) Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung - wie hier - nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Ablauf der Antragsfrist mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (BGH, Beschl. v. 18.7.2007 - XII ZB 32/07, NJW 2007, 2778 Rz. 14; v. 25.9.2013 - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rz. 9). Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat nunmehr an Eides statt versichert, dass sie die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers unterschriebene Berufungsbegründung am Vormittag des 1.12.2015 ordnungsgemäß einkuvertiert und frankiert und sodann zunächst in den Postausgangskorb gelegt habe. Mit Feierabend gegen 13 Uhr habe sie dann die gesamte Post einschließlich der Berufungsbegründung dem Postausgangskorb entnommen und in den Briefkasten vor dem Rathaus Seligenstadt, der nur ca. 20 Meter von der Kanzlei entfernt sei, eingeworfen. Auf der Grundlage dieser ergänzenden Behauptungen hätte das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ablehnen dürfen, weil der Kläger danach mit einem rechtzeitigen Eingang seiner Berufungsbegründung bei dem LG rechnen durfte. Auf die doppelt fehlerhafte Führung des Fristenkalenders kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
Rz. 11
2. Die Rechtsbeschwerde ist somit auch begründet.
III.
Rz. 12
Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob es das im Rechtsbeschwerdeverfahren ergänzte Parteivorbringen für glaubhaft, den vorgetragenen Geschehensablauf also für überwiegend wahrscheinlich (BGH, Beschl. v. 9.2.1998 - II ZB 15/97, NJW 1998, 1870; Beschl. v. 20.3.1996 - VIII ZB 7/96, NJW 1996, 1682 Rz. 15; Beschl. v. 3.3.1983 - IX ZB 4/83, VersR 1983, 491) hält. Die Sache ist daher gem. § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
NJW 2016, 10 |
NJW 2016, 3312 |
FamRZ 2016, 1924 |
FA 2016, 349 |
ZAP 2016, 1108 |
JZ 2016, 721 |
MDR 2016, 1284 |
MDR 2016, 1368 |
VersR 2016, 1463 |
RENOpraxis 2016, 249 |
VRR 2016, 2 |
BRAK-Mitt. 2016, 281 |
Mitt. 2017, 94 |