Entscheidungsstichwort (Thema)
Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung des Sachvortrags im Beweissicherungsverfahren. Bemessung des Streitwerts im Beweissicherungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
a) In dem selbstständigen Beweisverfahren auf Begutachtung durch einen Sachverständigen (§ 485 Abs. 2 ZPO) ist der Sachvortrag des Antragstellers hinsichtlich des Hauptanspruchs, zu dessen Geltendmachung die Begutachtung dienen soll, grundsätzlich nicht auf seine Schlüssigkeit oder Erheblichkeit zu prüfen. Ausnahmen können etwa gelten, wenn von vornherein ein Rechtsverhältnis, ein möglicher Prozessgegner oder ein Anspruch nicht erkennbar ist.
b) Der Streitwert des selbstständigen Beweisverfahrens ist mit dem Hauptsachewert oder mit dem Teil des Hauptsachewertes anzusetzen, auf den sich die Beweiserhebung bezieht.
Normenkette
ZPO §§ 3, 485
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsmittel der Antragsteller werden die Beschlüsse des 16. Zivilsenats des OLG Schleswig in Schleswig v. 13.4.2004 und der 11. Zivilkammer des LG Kiel v. 21.11.2003 aufgehoben.
Es ist nach Maßgabe der Antragsschrift v. 23.10.2003 Beweis zu erheben.
Die weiter erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen werden dem LG übertragen.
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 50.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im selbstständigen Beweisverfahren die Begutachtung von Gebäudemängeln an einem Grundstück, das sie auf Grund des Zuschlagsbeschlusses v. 30.8.2002 für 195.000 EUR im Zwangsversteigerungsverfahren erworben haben. Der Antragsgegner, ein von der Industrie- und Handelskammer zu K. öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken, hatte zuvor auf Ersuchen des Zwangsversteigerungsgerichts den Verkehrswert des Grundstücks mit 248.000 EUR ermittelt; in dieser Höhe hatte das Gericht den Wert festgesetzt. Die Antragsteller werfen dem Antragsgegner Fehler bei der Wertermittlung vor, nämlich dass er zahlreiche Gebäudemängel und -schäden unberücksichtigt gelassen habe, deren Beseitigung einen Aufwand von weit mehr als 50.000 EUR erfordern werde und die sich deshalb deutlich verkehrswertmindernd hätten auswirken müssen.
Das LG hat den auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über die behaupteten Mängel und die Kosten von deren Beseitigung sowie über die Frage, ob das vom Antragsgegner erstellte Wertgutachten zutreffend war oder zu einem niedrigeren Ergebnis hätte führen müssen, gerichteten Antrag zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Antragsteller ist erfolglos geblieben. Mit der vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und auch begründet.
1. Die durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz v. 17.12.1990 (BGBl. I, 2847) mit Wirkung v. 1.4.1991 neu gestalteten Bestimmungen über das selbstständige Beweisverfahren ermöglichen in § 485 Abs. 2 ZPO eine von einem Beweissicherungsbedürfnis, wie es etwa § 485 Abs. 1 ZPO voraussetzt, unabhängige Erhebung des Sachverständigenbeweises (Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 485 Rz. 6 m.w.N.). Voraussetzung ist lediglich, dass der Antragsteller ein rechtliches Interesse an der zu treffenden Feststellung hat; ein solches ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.
2. Der Begriff des "rechtlichen Interesses" ist weit zu fassen. Insbesondere ist es dem Gericht grundsätzlich verwehrt, bereits im Rahmen des selbstständigen Beweisverfahrens eine Schlüssigkeits- oder Erheblichkeitsprüfung vorzunehmen. Dementsprechend kann ein rechtliches Interesse dann verneint werden, wenn ein Rechtsverhältnis, ein möglicher Prozessgegner oder ein Anspruch nicht ersichtlich ist (Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 485 Rz. 7a m.w.N.). Dabei kann es sich nur um völlig eindeutige Fälle handeln, in denen evident ist, dass der behauptete Anspruch keinesfalls bestehen kann (vgl. OLG Köln v. 22.6.1995 - 22 W 20/95, OLGReport Köln 1996, 23 = NJW-RR 1996, 573 [574]; OLG Düsseldorf v. 16.1.2001 - 22 W 2/01, NJW-RR 2001, 1725 [1726]).
3. Das Beschwerdegericht meint, ein rechtliches Interesse fehle bereits dann, wenn eine Anspruchsgrundlage für den behaupteten Schadensersatzanspruch zwar theoretisch denkbar, aber offensichtlich nicht gegeben sei. Eine derartige Fallkonstellation liege hier vor.
4. Darin vermag der Senat dem Beschwerdegericht nicht zu folgen. Eine ganz offensichtliche Aussichtslosigkeit des Rechtsschutzbegehrens, zu dessen Vorbereitung das hier in Rede stehende selbstständige Beweisverfahren dienen soll, kann hier nicht festgestellt werden.
a) Die Antragsteller berühmen sich eines Anspruchs gegen den Antragsgegner, weil dieser als gerichtlich bestellter Sachverständiger in einem Zwangsversteigerungsverfahren grob fahrlässig ein Wertgutachten falsch erstellt habe. Es seien gröbste Mängel des Hauses übersehen worden, so dass ein Wert von 248.000 EUR statt richtigerweise von allenfalls 190.000 EUR ermittelt worden sei. Das AG habe den Verkehrswert auf der Basis des falschen Gutachtens mit 248.000 EUR festgesetzt, woraufhin sie, die Antragsteller, das Grundstück für 195.500 EUR ersteigert hätten. Wäre der Verkehrswert auf Grund eines zutreffenden Wertgutachtens mit etwa 190.000 EUR festgesetzt worden, hätten sie das Grundstück für einen beträchtlich niedrigeren Betrag als 195.000 EUR ersteigert.
b) Auf der Grundlage dieses Vorbringens hat das Beschwerdegericht einen Schadensersatzanspruch der Antragsteller gegen den Antragsgegner nach § 839a BGB in Betracht gezogen. Diese Bestimmung ist durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften v. 19.7.2002 (BGBl. I, 2674) in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt worden und schafft eine systematisch im Umfeld der Amtshaftung angesiedelte Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für solche Schäden, die einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entstehen, die auf einem vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtigen Gutachten beruht. Das Beschwerdegericht geht auch zutreffend davon aus, dass das hier in Rede stehende Schadensereignis - die Ersteigerung des Grundstücks - zeitlich in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen kann, da es nach dem 31.7.2002 eingetreten ist (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB).
c) Das Beschwerdegericht meint, eine Haftung des Antragsgegners wegen des behaupteten Fehlers nach § 839a BGB scheide schon deshalb aus, weil die gerichtliche Entscheidung, nämlich der Zuschlag v. 30.8.2002, nicht auf dem angeblich falschen Wertgutachten beruhe. Das Wertfestsetzungsverfahren nach dem ZVG sei als selbstständiges Nebenverfahren ausgestaltet. Der Zuschlagsbeschluss werde nicht dadurch materiell unrichtig, dass zuvor der Wert des Grundstücks falsch festgesetzt worden sei. § 74a Abs. 5 S. 4 ZVG schließe eine Anfechtung des Zuschlags wegen einer unrichtigen, aber rechtskräftigen Wertfestsetzung ausdrücklich aus. Folglich beruhe lediglich der rechtskräftige Wertfestsetzungsbeschluss, nicht aber der Zuschlagsbeschluss auf dem angeblich falschen Wertgutachten des Antragsgegners. Erst der Zuschlagsbeschluss könne aber zu einem Schaden der Antragsteller geführt haben.
d) Mit dieser Argumentation verlässt das Beschwerdegericht die ihm im Rahmen des selbstständigen Beweisverfahrens zustehende eingeschränkte Prüfungskompetenz, ob ein rechtliches Interesse der Antragsteller an der begehrten Tatsachenfeststellung anzunehmen ist. Die vom Berufungsgericht erörterten Gesichtspunkte betreffen rechtsgrundsätzliche Fragen zum Umfang der Haftung des gerichtlichen Sachverständigen nach § 839a BGB. Dementsprechend hat auch der BGH in zwei noch zum früheren Recht ergangenen Entscheidungen für vergleichbare Fallkonstellationen in Betracht gezogen, dass nach neuem Recht eine Haftung des gerichtlichen Sachverständigen nach § 839a BGB eintreten könne (BGH, Urt. v. 6.2.2003 - III ZR 44/02, MDR 2003, 628 = BGHReport 2003, 486 = VersR 2003, 1535 [1536]; Urt. v. 20.5.2003 - VI ZR 312/02, MDR 2003, 1180 = BGHReport 2003, 996 = NJW 2003, 2825 [2826] = VersR 2003, 1049 [1050]). Das selbstständige Beweisverfahren ist - wie die Rechtsbeschwerde mit Recht rügt - nicht dazu geeignet, diese Fragen abschließend zu entscheiden; vielmehr nimmt der angefochtene Beschluss in unzulässiger Weise die Hauptsache vorweg.
5. Die Sachentscheidungen beider Vorinstanzen können daher keinen Bestand haben. Der Senat macht von der ihm durch § 577 Abs. 5 S. 1 ZPO eingeräumten Befugnis, in der Sache zu entscheiden, insoweit Gebrauch, als er die Anordnung trifft, dass die beantragte Beweisaufnahme durchzuführen ist. Die weiter erforderlichen Maßnahmen werden gem. § 572 Abs. 3 ZPO dem LG als dem Gericht des ersten Rechtszuges übertragen.
III.
Der Senat bemisst den Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren nach dem vollen mutmaßlichen Hauptsachewert, hier also nach dem in der Antragsschrift angegebenen Minderwert des Grundstücks von 50.000 EUR.
1. Die Frage nach dem Streitwert des selbstständigen Beweisverfahrens ist in der Rechtsprechung, insb. derjenigen der OLG, umstritten. Die weit überwiegende Meinung bemisst ihn nach dem vollen Hauptsachewert; dem stimmt das Schrifttum nahezu einmütig zu. Einige OLG setzen dagegen nur einen Bruchteil des Hauptsachewertes an (umfassende Darstellung des Meinungsstandes bei Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 3 Rz. 16 Stichwort: "Selbstständiges Beweisverfahren"). Auch das Beschwerdegericht teilt diese letztere Auffassung und hat im vorliegenden Fall den Streitwert daher auf die Hälfte des von den Antragstellern angegebenen Minderwerts, d.h. auf 25.000 EUR, festgesetzt.
2. Der Senat entscheidet diese Streitfrage nunmehr im Sinne der h.M.
a) Die unterschiedlichen Positionen treten besonders charakteristisch einerseits in dem Beschluss des OLG Köln (OLG Köln, Beschl. v. 8.12.1993 - 2 W 200/93, OLGReport Köln 1994, 91 = MDR 1994, 414 = NJW-RR 1994, 761 f. - voller Hauptsachewert), andererseits in dem Beschluss des OLG Schleswig (des jetzigen Beschwerdegerichts; OLG Schleswig SchlHA 2003, 257 ff.) i.d.R. die Hälfte des Hauptsachewertes - zu Tage. Das OLG Schleswig erblickt das zentrale Argument für den Abschlag darin, dass der Antrag gerade nicht auf Verurteilung zur Zahlung einer bestimmten Geldsumme, sondern auf Feststellung von Tatsachen und die Ermittlung von Grundlagen für einen möglichen künftigen Prozess gerichtet sei. Es liege auf der Hand, dass dieses Verfahren keinen höheren Wert haben könne als eine statt des Beweisverfahrens angestrengte Feststellungsklage mit gleichem Ziel. Würde in deren Rahmen Beweis erhoben, bestünde kein Streit, dass sich die Beweisgebühr nach dem bei Feststellungsklagen ermäßigten Hauptsachewert richte, obwohl eine erfolgreiche Feststellungsklage wegen der mit dem Feststellungsurteil verbundenen Rechtskraftwirkung ein ungleich höheres wirtschaftliches Gewicht hätte als eine im Sinne des Antragstellers erfolgreiche Beweisaufnahme im Rahmen eines selbstständigen Beweisverfahrens.
b) Dem hält das OLG Köln jedoch mit Recht entgegen, dass das selbstständige Beweisverfahren nach der gesetzlichen Neuregelung als vorweggenommener Teil des späteren Hauptsacheverfahrens anzusehen ist. Dies ergibt sich mit besonderer Deutlichkeit aus dem Verwertungsgebot des § 493 Abs. 1 ZPO, wonach die selbstständige Beweiserhebung einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht gleichsteht. Sie dient damit nicht der Verfolgung eines im Verhältnis dazu geringeren Rechtsschutzziels. Es kommt nicht darauf an, dass das selbstständige Beweisverfahren nicht als solches auf die Schaffung eines Titels ausgerichtet ist (was wegen § 492 Abs. 3 ZPO auch nur mit Einschränkungen richtig ist), sondern darauf, dass es bestimmt und geeignet ist, in einem solchen Verfahren verwendet zu werden. Dem schließt sich der Senat an.
3. Dabei ist der vom Antragsteller bei Verfahrenseinleitung geschätzte Wert (§ 23 GKG a.F.; § 61 GKG n.F.) weder bindend noch maßgeblich; das Gericht hat nach Einholung des Gutachtens den "richtigen" Hauptsachewert, bezogen auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung und das Interesse des Antragstellers, festzusetzen (OLG Hamburg v. 1.2.2000 - 9 W 2/00, NJW-RR 2000, 827 [828]; Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 3 Rz. 16 m.w.N.). Dies kann beispielsweise bedeuten, dass dann, wenn im Beweisverfahren nicht alle behaupteten Mängel bestätigt werden, für die Streitwertfestsetzung diejenigen Kosten zu schätzen sind, die sich ergeben hätten, wenn jene Mängel festgestellt worden wären (OLG Jena v. 30.1.2001 - 1 W 31/01, OLGReport Jena 2001, 132). Für das jetzige Rechtsbeschwerdeverfahren hat es indessen - mangels entgegengesetzter Anhaltspunkte - bei den Angaben der Antragsteller als Grundlage für die Wertfestsetzung zu verbleiben.
Fundstellen
Haufe-Index 1240163 |
NJW 2004, 3488 |
BGHR 2005, 41 |
BauR 2004, 1975 |
BauR 2005, 364 |
EBE/BGH 2004, 330 |
IBR 2004, 733 |
ZfIR 2005, 222 |
MDR 2005, 162 |
WuM 2004, 627 |
ZfBR 2005, 54 |
AGS 2005, 21 |
BauSV 2005, 64 |
BrBp 2004, 518 |
NZBau 2005, 45 |
RVG-B 2005, 115 |
RVGreport 2004, 439 |
AIM 2004, 217 |
Mitt. 2005, 45 |