Leitsatz (amtlich)
a) Folgt der Rechtsmittelführer bei der Bestimmung der Frist zur Begründung der Berufung nach bewilligter Prozesskostenhilfe (für eine beabsichtigte Berufung) der Rechtsprechung des BGH (Beginn der einmonatigen Frist zur Begründung mit Bekanntgabe des Wiedereinsetzungsbeschlusses), weicht das Berufungsgericht hiervon aber unter Bezugnahme auf die Auffassung eines anderen Zivilsenats des BGH ab (Fristbeginn bereits mit Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses), fehlt es regelmäßig an einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten.
b) Das Rechtsmittelgericht hat dem Rechtsmittelführer in einem solchen Fall bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen auch von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zur Begründung der Berufung zu gewähren.
Normenkette
ZPO § 234 Abs. 1-2, § 520 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 06.03.2012; Aktenzeichen 12 UF 257/10) |
AG Hamburg-Altona (Urteil vom 26.10.2010; Aktenzeichen 353 F 203/09) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 3. Familiensenats des OLG Hamburg vom 6.3.2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: bis 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die minderjährige Klägerin nimmt den Beklagten, ihren Vater, mit ihrem am 31.8.2009 beim AG eingereichten Antrag auf Unterhalt in Anspruch.
Rz. 2
Das der Klage teilweise stattgebende Urteil ist dem Beklagten am 10.11.2010 zugestellt worden. Am 9.12.2010 hat der Beklagte Prozesskostenhilfe für eine von ihm beabsichtigte Berufung beantragt, die ihm das Beschwerdegericht antragsgemäß unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten bewilligt hat. Dieser Beschluss ist Letzterem am 26.10.2011 zugestellt worden. Nachdem er am 17.11.2011 darauf hingewiesen worden war, dass bislang kein Wiedereinsetzungsgesuch eingegangen sei, hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten am 1.12.2011 hinsichtlich des versäumten Wiedereinsetzungsantrags Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt, wegen der versäumten Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und ferner die Berufung begründet.
Rz. 3
Das Beschwerdegericht hat die Berufung unter Ablehnung der Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Berufungsbegründungsfrist verworfen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Rz. 5
Gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG richtet sich das Verfahren nach den bis zum 31.8.2009 maßgeblichen Bestimmungen, weil es vor dem 1.9.2009 eingeleitet worden ist (BGH BGHZ 184, 13 = FamRZ 2010, 357 Rz. 7).
Rz. 6
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auch zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht des Antragstellers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BGH v. 2.4.2008 - XII ZB 189/07, FamRZ 2008, 1338 Rz. 8 m.w.N.).
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
Rz. 8
a) Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Rz. 9
Es könne dahingestellt bleiben, ob dem Beklagten hinsichtlich der versäumten Wiedereinsetzungsfrist für die Einlegung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen sei. Entscheidend sei, dass jedenfalls hinsichtlich der versäumten Frist für die Begründung der Berufung die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nicht vorlägen. Dem Beklagten sei durch Beschluss vom 19.10.2011 antragsgemäß Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Berufung bewilligt und sein Prozessbevollmächtigter beigeordnet worden. Damit sei das bestehende Hindernis behoben gewesen; die Berufung hätte innerhalb der einmonatigen Frist gem. § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO begründet werden können und müssen. Da die Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses an den Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 26.10.2011 erfolgt sei, hätte die Berufungsbegründung spätestens am Montag, dem 28.11.2011, vorliegen müssen. Sie sei jedoch erst am 1.12.2011 und damit verspätet eingegangen.
Rz. 10
Der Auffassung, die Rechte der mittellosen Partei würden mit der dargestellten, am Wortlaut der Wiedereinsetzungsvorschriften orientierten Gesetzesauslegung unangemessen beschränkt, weil für die Anfertigung der Berufungsbegründung nur ein Monat Zeit verbleibe, werde nicht gefolgt. Der XII. Zivilsenat des BGH habe ausführlich und überzeugend dargelegt, dass die angenommene Benachteiligung der mittellosen Partei nicht existiere. Insbesondere sei der Partei, die erfolgreich um Prozesskostenhilfe nachgesucht habe, das anzufechtende Urteil schon über einen längeren Zeitraum bekannt, wenn ihr die Bewilligungsentscheidung des Berufungsgerichts zugehe. Darüber hinaus sei durch die Bewilligungsentscheidung sogar bereits die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels bescheinigt. Unter diesen Umständen bestehe kein hinreichender Grund, den Lauf der vom Gesetzgeber vorgesehenen einmonatigen Frist für die Begründung der Berufung entgegen dem Wortlaut von § 234 Abs. 2 ZPO nicht an die tatsächliche Behebung des Hindernisses - nämlich den Zugang der Prozesskostenhilfebewilligung - anzuknüpfen, sondern als Behebung des Hindernisses erst die Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch hinsichtlich der versäumten Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu betrachten. Dem Gesetzgeber sei bei der Neufassung des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO die Problematik bekannt gewesen. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs habe die Gesetzesänderung gerade dazu gedient, die Anforderungen der Rechtsprechung umzusetzen, indem einem Rechtsmittelführer, dem Prozesskostenhilfe nach Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist gewährt worden sei, ein Monat Zeit für die Begründung verbleibe.
Rz. 11
Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt habe der Prozessbevollmächtigte des Beklagten damit rechnen müssen, dass die im Beschluss des BGH vom 11.6.2008 (XII ZB 184/05) dargelegte Rechtsauffassung Gefolgschaft finden würde und sein prozessuales Verhalten darauf einstellen müssen.
Rz. 12
b) Das hält rechtlicher Überprüfung im Ergebnis nicht stand. Dabei kann dahin stehen, ob für den Lauf der Wiedereinsetzungsfrist hinsichtlich der Begründung der Berufung die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses oder erst die Mitteilung der Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch hinsichtlich der versäumten Frist zur Einlegung des Rechtsmittels maßgeblich ist. In jedem Fall hätte das Berufungsgericht dem Beklagten Wiedereinsetzung gewähren müssen.
Rz. 13
aa) Nach der Entscheidung des XI. Zivilsenats des BGH vom 19.6.2007 (BGHZ 173, 14 = FamRZ 2007, 1640) beginnt die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO zur Nachholung der Berufungsbegründung erst mit der Mitteilung der Wiedereinsetzungsentscheidung.
Rz. 14
Zutreffend hat das Beschwerdegericht allerdings darauf hingewiesen, dass der Senat in seiner Entscheidung vom 11.6.2008 (XII ZB 184/05 - NJW-RR 2008, 1313 Rz. 10 ff., 14) - als obiter dictum - zum Ausdruck gebracht hat, dass die Wiedereinsetzungsfrist gem. § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO seiner Auffassung nach bereits mit Bekanntgabe des Prozesskostenhilfebeschlusses zu laufen beginnt (ebenso für die Beschwerdebegründung in einer Familienstreitsache OLG Zweibrücken FamRZ 2012, 1238).
Rz. 15
bb) Unbeschadet der Frage, welcher der vorgenannten Auffassungen zu folgen ist, hätte das Berufungsgericht dem Beklagten jedenfalls Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zur Begründung der Berufung gewähren müssen.
Rz. 16
Unschädlich ist, dass der Beklagte eine solche Wiedereinsetzung nicht beantragt hat, sondern - aus seiner Sicht konsequent - den Standpunkt vertreten hat, die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO habe mangels Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist noch nicht zu laufen begonnen.
Rz. 17
Bei dieser Sachlage hätte das OLG gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO von Amts wegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erwägen und, weil den Prozessbevollmächtigten des Beklagten entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch kein Verschulden i.S.d. § 233 ZPO trifft, gewähren müssen (vgl. BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100 Rz. 16).
Rz. 18
Allerdings kann eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Prozessbevollmächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die dem Anwalt die Prozessführung überträgt, vertraut zu Recht darauf, dass er dieser Aufgabe gewachsen ist. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert (BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100 Rz. 19 m.w.N.).
Rz. 19
Nach diesen Maßstäben war der Prozessbevollmächtigte des Beklagten allerdings nicht gehalten, vorsorglich die Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses als Fristbeginn für die Einreichung der Berufungsbegründung zu notieren, denn er durfte sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung verlassen. Anders als im Fall der Senatsentscheidung, die zu dem hier im Streit stehenden Fristbeginn lediglich ein obiter dictum enthält (BGH v. 11.6.2008 - XII ZB 184/05, NJW-RR 2008, 1313 Rz. 10 ff., 14), kam es in dem vom XI. Zivilsenat entschiedenen Fall auf die Streitfrage an (BGHZ 173, 14 = FamRZ 2007, 1640). Hinzu kommt, dass zwei weitere Senate die Auffassung des XI. Zivilsenats in obiter dicta übernommen haben (BGH Beschlüsse v. 26.5.2008 - II ZB 19/07, NJW-RR 2008, 1306 Rz. 16; v. 17.5.2010 - II ZB 12/09, MDR 2010, 947 Rz. 13 und BGHZ 176, 379 = NJW 2008, 3500 Rz. 6).
Rz. 20
3. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Der Senat kann in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil das Beschwerdegericht - aus seiner Sicht folgerichtig - keine Feststellung dazu getroffen hat, ob dem Beklagten Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist zu gewähren ist.
Fundstellen
NJW 2013, 471 |
BauR 2013, 828 |
EBE/BGH 2013 |
FamRZ 2013, 437 |
JurBüro 2013, 613 |
JZ 2013, 163 |
MDR 2013, 363 |
VersR 2013, 1149 |
FF 2013, 131 |
FamRB 2013, 108 |
RENOpraxis 2013, 60 |
BRAK-Mitt. 2013, 75 |
PAK 2013, 96 |