Leitsatz (amtlich)
Eine Verletzung des Rechts aus Art. 104 Abs. 4 GG führt nicht zur Rechtswidrigkeit eines Haftanordnungsbeschlusses gemäß den §§ 415 ff. FamFG.
Normenkette
GG Art. 104 Abs. 4; FamFG § 62 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Mainz (Beschluss vom 12.12.2013; Aktenzeichen 8 T 186/13) |
AG Bingen am Rhein (Beschluss vom 22.10.2013; Aktenzeichen 110 XIV 13/13 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Mainz vom 12.12.2013 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im November 2012 erstmalig in die Bundesrepublik ein, ohne im Besitz der hierfür erforderlichen Papiere zu sein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durch Bescheid vom 3.4.2013 als unzulässig ab. Gleichzeitig ordnete es die Abschiebung nach Schweden an, wo er zuvor ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte. Schweden erklärte sich bereit, ihn im Rahmen der Vorgaben der Dublin-II-Verordnung zurückzunehmen. Nach Zustellung des Bescheids des BAMF tauchte der Betroffene unter und hielt sich nach eigenen Angaben für etwa sechs Monate illegal in Paris auf. In der Nacht vom 21. auf den 22.10.2013 reiste er erneut in das Bundesgebiet ein, um eine Freundin zu besuchen. Nach vorläufiger Festnahme des Betroffenen beantragte die beteiligte Behörde am 22.10.2013, gegen ihn zur Sicherung der Zurückschiebung Abschiebehaft bis zum 19.11.2013 anzuordnen. Im Rahmen der Anhörung vor dem AG gab er auf Befragen an, dass von der Inhaftierung niemand benachrichtigt werden sollte. Das AG ordnete mit Beschluss vom 22.10.2013 antragsgemäß Abschiebehaft an. Hiergegen hat der Betroffene nach Verkündung des Beschlusses am selben Tag zu Protokoll des AG Beschwerde eingelegt. Nachdem er am 4.11.2013 nach Schweden überstellt worden war, hat er bei dem LG die Feststellung beantragt, dass der Beschluss des AG ihn in seinen Rechten verletzt habe. Das LG hat den Feststellungsantrag zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 2
Nach Auffassung des Beschwerdegerichts waren die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Haftanordnung gegeben. Es habe ein zulässiger Haftantrag der zuständigen Behörde vorgelegen. Ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG sei nicht ersichtlich. Ausweislich des Protokolls der Anhörung vor dem AG sei der Betroffene darüber belehrt worden, dass Dritte von seiner Inhaftierung unterrichtet werden könnten. Hierauf habe er verzichtet. Nach herrschender Auffassung, der sich die Kammer anschließe, sei ein solcher Verzicht auf die Benachrichtigungspflicht durch den Betroffenen möglich. Eine Vertrauensperson sei dem AG auch nicht bekannt gewesen. Angaben des Betroffenen hierzu könnten nicht erzwungen werden. Haftgründe hätten ebenfalls vorgelegen (§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 5 AufenthG).
III.
Rz. 3
1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist eine Rechtsbeschwerde auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthaft, wenn - wie hier - das Beschwerdegericht über einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung nach § 62 Abs. 1 FamFG entschieden hat und in dem Rechtsbeschwerdeverfahren die Überprüfung dieser Entscheidung verlangt wird (BGH, Beschlüsse v. 28.4.2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200 Rz. 9 und vom 6.10.2011 - V ZB 314/10, FGPrax 2012, 44 Rz. 5).
Rz. 4
2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde jedoch keinen Erfolg. Die Haftanordnung des AG verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Rechten.
Rz. 5
a) Von Rechts wegen nicht zu beanstanden sind zunächst die Ausführungen des Beschwerdegerichts zu dem Vorliegen eines zulässigen Haftantrags gem. § 417 Abs. 2 FamFG. Entsprechendes gilt für die Annahme der Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 5 AufenthG. Insoweit erhebt der Betroffene auch keine Einwendungen.
Rz. 6
b) Die Rechtswidrigkeit des Haftanordnungsbeschlusses des AG folgt entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht aus einer Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG bzw. des hiermit inhaltlich übereinstimmenden § 432 FamFG.
Rz. 7
aa) Es spricht zunächst bereits viel dafür, dass das AG nicht gegen die in Art. 104 Abs. 4 GG angeordnete Pflicht verstoßen hat, von jeder rechtlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich einen Angehörigen des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen.
Rz. 8
(1) Die Ansicht des Beschwerdegerichts, der von dem Betroffenen erklärte Verzicht auf die Benachrichtigungspflicht sei möglich, entspricht der Rechtsprechung des BVerfG. Danach ist die Erklärung des Festgehaltenen, von seiner Inhaftierung solle keine Person benachrichtigt werden, allerdings eng auszulegen. Sie bezieht sich auf die erstmalige Anordnung der Haft - nur darum geht es hier - und hat keine Bedeutung für spätere Entscheidungen über ihre Fortdauer (vgl. BVerfGE 16, 119, 122). Auch in Teilen der Literatur wird ein Verzicht grundsätzlich für zulässig erachtet, weil gegenüber der Benachrichtigungspflicht das gleichfalls grundrechtlich geschützte Interesse des Festgehaltenen überwiege, über ihn belastende Tatsachen gerade ihm nahe stehende Personen nicht informiert wissen zu wollen (vgl. v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl., Art. 104 Rz. 39; Prütting/Helms/Jennissen, FamFG, 3. Aufl., § 432 Rz. 3; Marschner/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 5. Aufl., § 432 Rz. 1; a.A. Schmidt-Bleibtreu/Schmahl, GG, 12. Aufl., Art. 104 Anm. 27; Sachs/Degenhart, GG, 7. Aufl., Art. 104 Rz. 25 f.; BeckOK/GG/Radtke, Stand: 1.3.2015, Art. 104 Rz. 18; differenzierend von Mangold/Klein/Gusy, GG, 6. Aufl., Art. 104 Abs. 4 Rz. 71; Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl., Art. 104 Rz. 21; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, 2. Aufl., Art. 104 Rz. 58; Rüping in: BK, Art. 104 Rz. 87 f.: Abwägung im Einzelfall erforderlich).
Rz. 9
(2) Zudem ist zweifelhaft, ob ein Gericht, dem nach Befragen des Verhafteten weder ein Angehöriger noch eine Vertrauensperson bekannt ist, Nachforschungen anstellen muss (verneinend etwa Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 114c Rz. 4 und BeckOK/Krauß StPO, Edition 23, § 114c Rz. 7, jeweils zu der mit Art. 104 Abs. 4 GG übereinstimmenden Vorschrift des § 114c Abs. 2 StPO; bejahend - zu derselben Vorschrift - KK-StPO/Graf, 7. Aufl., § 114c Rz. 13 und SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl., § 114c Rz. 9). Besteht keine Nachforschungspflicht, hätte das AG Art. 104 Abs. 4 GG schon deshalb nicht verletzt, weil ihm nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts eine Vertrauensperson nicht bekannt war.
Rz. 10
bb) Auf diese Fragen kommt es jedoch nicht an. Die Rechtsbeschwerde hat auch dann keinen Erfolg, wenn zugunsten des Betroffenen eine Verletzung seines Rechts aus Art. 104 Abs. 4 GG unterstellt wird. Eine solche Verletzung führt nämlich nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung.
Rz. 11
(1) Nach Art. 104 Abs. 1 GG kann die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Im vorliegenden Zusammenhang finden sich die maßgeblichen Bestimmungen vorrangig in dem Aufenthaltsgesetz (insb. § 62 AufenthG) und in den §§ 415 ff. FamFG. Über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung hat gem. Art. 104 Abs. 2 GG ein Richter zu entscheiden. Wird gegen diese Bestimmungen verstoßen, hat dies die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung zur Folge. Die Erfüllung der in Art. 104 Abs. 4 GG angeordneten Benachrichtigungspflicht ist demgegenüber keine Voraussetzung für die Beschränkung der Freiheit der Person. Sie tritt vielmehr neben dieses Grundrecht und hat einen darüber hinausgehenden, eigenständigen Regelungsgehalt. Art. 104 Abs. 4 GG bezweckt, das "spurlose" Verschwinden von Personen zu verhindern (vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Band 3, 2. Aufl., Art. 104 Rz. 56 f.). Hierbei handelt es sich zum einen um eine objektive Verfahrensverpflichtung des die Haft anordnenden Richters. Ihr entspricht auf der anderen Seite ein subjektives Recht des Festgenommenen auf Benachrichtigung durch den Richter (vgl. BVerfGE 16, 119, 122). Die Verletzung dieses Rechts kann von dem Betroffenen ungeachtet einer etwaigen Verletzung seines Grundrechts auf Freiheit der Person geltend gemacht werden. Auch wenn die Haftanordnung rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG verletzt, kann die Benachrichtigungspflicht gem. Art. 104 Abs. 4 GG erfüllt worden sein. Umgekehrt können sämtliche Voraussetzungen für die Haftanordnung vorliegen, die Rechte des Betroffenen aus Art. 104 Abs. 4 GG aber missachtet sein.
Rz. 12
(2) Dass eine Verletzung der Benachrichtigungspflicht aus Art. 104 Abs. 4 GG nicht zugleich zur Rechtswidrigkeit der Anordnung der Haft führt, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfGE 16, 119, 124; 38, 32, 35; s. auch Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, NStZ-RR 2000, 185, 187). Liegt ein Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht vor und legt ein Festgehaltener Verfassungsbeschwerde ein, beschränkt sich das BVerfG auf eine Feststellung der Verletzung des Grundrechts aus Art. 104 Abs. 4 GG. Diese berührt nicht den sachlichen Inhalt der Haftanordnung bzw. der späteren Entscheidungen über ihre Fortdauer (BVerfGE 16, 119, 124; 38, 32, 35).
Rz. 13
(3) Die von dem BVerfG im Zusammenhang mit einer Verfassungsbeschwerde angestellten Überlegungen gelten im vorliegenden Zusammenhang entsprechend. Ein Betroffener kann deshalb die Aufhebung einer Haftanordnung gem. §§ 415 ff. FamFG nicht mit der Begründung erreichen, das die Haft anordnende Gericht habe gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen. Da ein solcher Verstoß nicht die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung als solche zur Folge hat (vgl. in diesem Sinne auch Prütting/Helms/Jenissen, FamFG, 3. Aufl., § 432 Rz. 5; Marschner/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 5. Aufl., § 432 Rz. 4), kann auch - nach Erledigung der Haftanordnung - ein Feststellungsantrag nicht auf die Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG gestützt werden.
Rz. 14
c) Der Rechtsbeschwerde verhilft es schließlich nicht zum Erfolg, dass ein Festgehaltener die ihm in Art. 104 Abs. 4 GG eingeräumten Rechte möglicherweise mit einer Beschwerde durchsetzen und bei eingetretener Erledigung einen Feststellungsantrag stellen kann.
Rz. 15
aa) Vorliegend hat der Betroffene bei dem Beschwerdegericht und auch im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, die Feststellung der Rechtswidrigkeit der unterbliebenen Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson beantragt. Seine Rechtsmittel zielen vielmehr darauf festzustellen, dass die Haftanordnung des AG ihn in seinen Rechten verletzt hat.
Rz. 16
bb) Es ist auch nicht möglich, den von dem Betroffenen mit der Rechtsbeschwerde gestellten Antrag über seinen Wortlaut hinaus dahingehend erweiternd auszulegen, es solle festgestellt werden, dass das Unterbleiben der Benachrichtigung ihn in seinen Rechten verletzt habe. Eine Rechtsbeschwerde mit diesem Ziel wäre nämlich unzulässig und eine entsprechende Auslegung deshalb nicht interessegerecht.
Rz. 17
Gemäß § 70 Abs. 3 Nr. 3, Satz 2 FamFG ist eine Rechtsbeschwerde in Freiheitsentziehungssachen nur dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringung oder die freiheitsentziehende Maßnahme anordnet. Entscheidend ist hierfür nach der Gesetzesbegründung, ob der Beschluss für den Rechtsmittelführer unmittelbar freiheitsentziehende Wirkung hat (vgl. BT-Drucks. 16/1217, 60). Dies schließt es zwar nicht aus, eine Rechtsbeschwerde auch dann ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht als statthaft anzusehen, wenn sich die Haftanordnung erledigt hat und die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieses Beschlusses beantragt wird (vgl. BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, MDR 2010, 697 Rz. 9). Geht es jedoch - wie hier - nicht um die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Anordnungsbeschlusses als solche, sondern um die Verletzung sonstiger Rechte, mögen sie auch im Zusammenhang mit der Haftanordnung stehen, verbleibt es bei der Regel des § 70 Abs. 1 FamFG. Hiernach ist eine Rechtsbeschwerde nur statthaft, wenn sie von dem Beschwerdegericht zugelassen ist. An einer solchen Zulassung fehlt es hier.
IV.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 36 Abs. 3 GNotKG i.V.m. § 136 Abs. 1 Nr. 2 GNotKG.
Fundstellen
Haufe-Index 9146150 |
NVwZ-RR 2016, 275 |
FGPrax 2016, 88 |
InfAuslR 2016, 189 |