Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Anordnung § 769 Abs. 1 ZPO. Sofortige Beschwerde. Außerordentliche Beschwerde
Leitsatz (amtlich)
Gegen eine einstweilige Anordnung nach § 769 Abs. 1 ZPO ist weder die sofortige Beschwerde noch eine außerordentliche Beschwerde statthaft.
Normenkette
ZPO § 574 Abs. 1-2, § 707 Abs. 2 S. 2, § 769 Abs. 1, § 793
Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Beschluss vom 18.11.2003) |
AG Ulm |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des 16. Zivilsenats - Familiensenat - des OLG Stuttgart v. 18.11.2003 wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.
Beschwerdewert: bis 150 EUR
Gründe
I.
Die Parteien streiten um Abänderung eines Titels über Kindesunterhalt. Mit gerichtlichem Vergleich v. 1.12.1998 verpflichtete sich der Kläger, an den Beklagten, seinen Sohn aus geschiedener Ehe, Unterhalt i. H. v. 170 % des Regelbetrages abzgl. des hälftigen Kindergeldes zu zahlen. Mit der vorliegenden Klage begehrt er Herabsetzung des Kindesunterhalts auf 114 % des Regelbetrages abzgl. des hälftigen Kindergeldes.
Auf den Antrag des Klägers hat das AG die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich einstweilen gegen Sicherheitsleistung in Höhe des sonst vollstreckbaren Betrages eingestellt, soweit der Titel 150 % des Regelbetrages abzgl. des hälftigen Kindergeldes übersteigt. Das OLG hat die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde als unzulässig verworfen und wegen der Frage "der Anfechtungsmöglichkeiten gegen einen Beschluss nach § 769 ZPO" die Rechtsbeschwerde zugelassen.
II.
Die Rechtsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig.
1. Nach der Neuregelung des Beschwerderechts durch das Zivilprozessreformgesetz v. 27.7.2001 (BGBl. I, 1887, 1902) kann der BGH gegen Beschlüsse des Beschwerdegerichts, des Berufungsgerichts oder des OLG im ersten Rechtszug ausschließlich in den Fällen des § 574 Abs. 1 ZPO angerufen werden. Danach ist die Rechtsbeschwerde nur statthaft, wenn dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) oder das Berufungsgericht sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Beide Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Gegen Beschlüsse, mit denen eine Beschwerde als unzulässig verworfen wurde, ist die Rechtsbeschwerde nicht generell statthaft. Insoweit unterscheidet sich das Beschwerderecht (§ 572 Abs. 2 ZPO) von der ausdrücklichen Regelung im Berufungsrecht (§ 522 Abs. 1 S. 4 ZPO).
Der Senat ist auch nicht an die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Beschwerdegericht gebunden. Durch die Zulassung wird dem Beschwerdeführer die Rechtsbeschwerde zugänglich gemacht, wenn sie nach dem Gesetz grundsätzlich statthaft ist. Sie wird aber nicht in den Fällen eröffnet, in denen die Anfechtbarkeit gesetzlich ausgeschlossen ist (BGH, Beschl. v. 12.9.2002 - III ZB 43/02, BGHReport 2002, 1052 = MDR 2002, 1388 = NJW 2002, 3554 zur Prozesskostenhilfe; Beschl. v. 8.10.2002 - VI ZB 27/02, MDR 2003, 41 = BGHReport 2003, 151 = NJW 2003, 211 zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Beschl. v. 10.12.2003 - IV ZB 35/03, BGHReport 2004, 475 = FamRZ 2004, 437 zur Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO). Eine nach dem Gesetz unanfechtbare Entscheidung des Beschwerdegerichts kann nicht durch dessen Ausspruch der Anfechtung unterworfen werden. Das gilt erst recht, wenn schon das Rechtsmittel zum Beschwerdegericht nicht zulässig war (vgl. BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - IX ZB 369/02, MDR 2004, 348 = BGHReport 2004, 413 = NJW 2004, 1112 m. w. N.).
2. Wie das Beschwerdegericht zutreffend erkannt hat, ist gegen einstweilige Anordnungen nach § 769 Abs. 1 ZPO kein Rechtsmittel gegeben.
a) Gegen Entscheidungen des Prozessgerichts nach § 769 Abs. 1 ZPO, in denen die Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise eingestellt wird, ist eine sofortige Beschwerde nicht statthaft. Das folgt aus einer Auslegung des § 769 Abs. 1 ZPO im Kontext der allgemeinen Vorschriften zur Zwangsvollstreckung, insb. der §§ 707 Abs. 2 S. 2, 793 ZPO.
Während eine Anfechtungsmöglichkeit in § 769 Abs. 1 ZPO nicht ausdrücklich geregelt ist, schließt § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO die Anfechtung einer Entscheidung über die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung bei Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Wiederaufnahme des Verfahrens ausdrücklich aus; § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO verweist für die Fälle des Einspruchs oder der Berufung gegen ein für vorläufig vollstreckbar erklärtes Urteil auf diese Regelung. Im Übrigen folgt aus § 793 ZPO, dass gegen Entscheidungen, die im Zwangsvollstreckungsverfahren ohne mündliche Verhandlung ergehen können, die sofortige Beschwerde stattfindet. Ob gegen eine Entscheidung über die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 769 Abs. 1 ZPO die allgemeine Beschwerdemöglichkeit nach § 793 ZPO eröffnet oder ob wegen der Vergleichbarkeit zu den abweichend geregelten Einzelfällen und einer planwidrigen Regelungslücke eine Analogie zu § 707 Abs. 2 ZPO geboten ist, muss deswegen eine Auslegung des § 769 Abs. 1 ZPO ergeben.
Gegen die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde nach § 793 ZPO spricht schon der Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Sie ermöglicht ein Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts, während im 1. Abschnitt des 8. Buches der Zivilprozessordnung (§§ 704 ff. ZPO) nicht nur die Tätigkeit des Vollstreckungsgerichts, sondern auch das Verfahren des Prozessgerichts geregelt ist. Gerade § 769 Abs. 1 ZPO ermöglicht es dem mit Einwendungen gegen das Urteil befassten Prozessgericht, die Zwangsvollstreckung gegen oder ohne Sicherheitsleistung einzustellen (vgl. Künkel, MDR 1989, 309 [310]). Insoweit ist das Verfahren mit den Verfahren nach § 707 ZPO vergleichbar, in denen ebenfalls ein schon vollstreckbarer Titel abgeändert werden soll. Wie in jenen Verfahren ist es auch hier geboten, die Entscheidung in der Hauptsache nicht durch Rechtsmittel gegen die Nebenentscheidung über die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung zu verzögern. Entsprechend sind auch sonst die in einem Hauptsacheverfahren ergangenen einstweiligen Anordnungen regelmäßig nicht anfechtbar, wie sich aus § 620c ZPO ergibt.
Auch wegen der gleichen Interessenlage bei der Einstellungsmöglichkeit nach § 769 Abs. 1 ZPO zu jener nach § 707 ZPO ist es geboten, die Vorschrift des § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO analog anzuwenden. Nach der gesetzgeberischen Wertung kann das mit der Hauptsache befasste erstinstanzliche Gericht am besten beurteilen, ob und ggf. welche einstweilige Regelung erforderlich ist (vgl. BT-Drucks. 10/3054, 14). Seine Entscheidung in der Hauptsache soll nicht durch eine vorläufige Entscheidung des Beschwerdegerichts beeinflusst werden (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 769 Rz. 18). Dadurch wird der Rechtsschutz nicht entscheidend beeinträchtigt, denn die Anordnungen sind in jeder Instanz frei abänderbar, um der jeweiligen Prozesslage gerecht zu werden (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 769 Rz. 18; Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 707 Rz. 18, 22). Zudem endet die einstweilige Maßnahme mit der Entscheidung in der Hauptsache. Deswegen spricht sich auch der überwiegende Teil der Rechtsprechung für eine analoge Anwendung des § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO auf § 769 Abs. 1 ZPO aus (aus der neueren Rspr., vgl. z. B. neben dem hier angefochtenen Beschluss des OLG Stuttgart noch OLG Frankfurt v. 29.8.2002 - 26 W 102/02, OLGReport Frankfurt 2004, 102 = NJW-RR 2003, 140; OLG Karlsruhe v. 18.10.2002 - 20 (16) WF 74/02, OLGReport Karlsruhe 2003, 359 = FamRZ 2003, 1676; OLG Koblenz v. 28.4.2003 - 11 WF 297/03, OLGReport Koblenz 2003, 332; LG Magdeburg, Beschl. v. 6.10.2003 - 3 T 714/03, JURIS).
Einer entsprechenden Anwendung des § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber die Frage trotz der in Rechtsprechung (vgl. insoweit die Aufstellung von Lemke, MDR 2000, 13 [18]) und Literatur umstrittenen Rechtsfrage ungeregelt gelassen hat. Denn entgegen der Auffassung des LArbG Frankfurt (LAG Frankfurt, Beschl. v. 8.5.2003 - 16 Ta 172/03, JURIS) folgt daraus nicht, dass die Rechtsfrage im Sinne einer Anwendbarkeit der sofortigen Beschwerde nach § 793 ZPO geregelt sein sollte. Der Gesetzgeber hat die zunächst aufgetretene unbewusste Regelungslücke vielmehr in Kenntnis der überwiegenden Auffassung zur Unanfechtbarkeit des Beschlusses nach § 769 Abs. 1 ZPO unverändert gelassen. Schon im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung v. 18.3.1985 war eine Änderung des § 769 Abs. 3 ZPO vorgesehen, wonach auch gegen solche Beschlüsse keine Rechtsmittel zulässig sein sollten, um nicht das Verfahren der Hauptsache entgegen dem rechtsstaatlichen Gebot zur Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes unangemessen zu verzögern (BT-Drucks. 10/3054, 14). Zwar ist diese Regelung letztlich nicht in das Gesetz übernommen worden. Das war bei gleich gebliebener gesetzgeberischer Intention, nämlich das Verfahren der Hauptsache nicht durch Rechtsmittel gegen Zwischen- und Nebenentscheidungen unvertretbar zu verzögern, allein auf die Auffassung zurückzuführen, die grundsätzliche Unanfechtbarkeit dieser Anordnungen und Maßnahmen sei "in der Rechtsprechung hinreichend anerkannt" (BT-Drucks. 11/3621, 25 [26]). Letztlich wollte der Gesetzgeber die Rechtsfrage also im Sinne einer Unanfechtbarkeit dieser Entscheidungen beantwortet lassen. Daran hat sich auch durch die späteren Reformen nichts geändert, weil diese Frage bei gleich gebliebener Motivation des Gesetzgebers ungeregelt geblieben ist (vgl. BT-Drucks. 14/4722, 68 [122]; so auch Musielak/Lackmann, ZPO, 3. Aufl., § 707 Rz. 12; Schmidt in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 769 Rz. 33; OLG Frankfurt v. 29.8.2002 - 26 W 102/02, OLGReport Frankfurt 2004, 102 = NJW-RR 2003, 140).
b) Zu Recht hat das Beschwerdegericht auch eine außerordentliche Beschwerde nicht für zulässig erachtet. Der BGH hat entschieden, dass nach der Neuregelung des Beschwerderechts durch das Zivilprozessreformgesetz Beschlüsse der Beschwerdegerichte ausschließlich in den Fällen des § 574 Abs. 1 ZPO angefochten werden können. Ein außerordentliches Rechtsmittel zum BGH ist auch dann nicht statthaft, wenn die Entscheidung ein Verfahrensgrundrecht des Beschwerdeführers verletzt oder aus sonstigen Gründen greifbar gesetzwidrig ist. In einem solchen Fall ist die angefochtene Entscheidung durch das Gericht, das sie erlassen hat, auf (fristgebundene) Gegenvorstellung zu korrigieren. Wird ein Verfassungsverstoß nicht beseitigt, kommt allein eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG in Betracht (BGH v. 7.3.2002 - IX ZB 11/02, BGHZ 150, 133 = BGHReport 2002, 431 = MDR 2002, 901). Entsprechend ist durch das Zivilprozessreformgesetz die Vorschrift des § 321a ZPO eingeführt worden, die es dem Gericht erster Instanz ermöglicht, auf fristgebundene Rüge sein noch nicht rechtskräftiges Urteil abzuändern. So hat auch das BVerfG durch Plenarbeschluss v. 30.4.2003 (BVerfG v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = FamRZ 2003, 995) dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31.12.2004 eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall zu schaffen, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Für den Fall, dass der Gesetzgeber keine rechtzeitige Neuregelung trifft, hat es angeordnet, dass das Verfahren auf Antrag einer beschwerten Partei von dem Gericht fortzusetzen ist, dessen Entscheidung wegen der behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angegriffen wird. Auch das spricht dafür, selbst in Fällen fehlerhafter Ermessensausübung (vgl. insoweit noch OLG Celle v. 7.8.2002 - 4 W 158/02, WM 2002, 2453; OLG Schleswig, Beschl. v. 18.8.2003 - 16 W 110/03, OLGReport Schleswig 2004, 130, Juris; OLG Köln FF 2002, 175; OLG Frankfurt InVo 2003, 479) eine außerordentliche Beschwerde nicht mehr zuzulassen, zumal dem Ausgangsgericht die Möglichkeit eröffnet wird, greifbaren Verfahrensverstößen selbst abzuhelfen. Im Übrigen darf das Gericht den Beschluss nach § 769 Abs. 1 ZPO schon nach der gegenwärtigen Rechtslage jederzeit ändern und die Zwangsvollstreckung gegen oder ohne Sicherheitsleistung einstellen oder aufheben und die Einstellung rückgängig machen (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 769 Rz. 10).
Fundstellen
Haufe-Index 1167226 |
BGHZ 2005, 14 |
NJW 2004, 2224 |
BGHR 2004, 1191 |
FamRZ 2004, 1191 |
FuR 2005, 130 |
FPR 2004, 517 |
InVo 2004, 368 |
JuS 2004, 924 |
MDR 2004, 1137 |
VersR 2005, 427 |
FamRB 2004, 292 |
NJW-Spezial 2004, 200 |
ProzRB 2004, 294 |