Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der Zulassung der Rechtsbeschwerde bei fehlerhafter Besetzung des Beschwerdegerichts. Beschränkung der Rechtsbeschwerde bei Bewilligungsverfahren von Prozesskostenhilfe
Leitsatz (amtlich)
a) Misst ein Einzelrichter in einem Beschwerdeverfahren einer Sache rechtsgrundsätzliche Bedeutung zu und lässt deswegen die Rechtsbeschwerde zu, ist die Zulassung zwar wirksam, seine Entscheidung unterliegt jedoch auf Rechtsbeschwerde im Hinblick auf die von Amts wegen zu berücksichtigende fehlerhafte Besetzung des Beschwerdegerichts der Aufhebung (Bestätigung von BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200; BGH v. 27.4.2010 - VIII ZB 81/09, WuM 2010, 385; v. 21.9.2010 - VIII ZB 73/09, WuM 2011, 61; v. 8.3.2011 - VIII ZB 65/10, WuM 2011, 242).
b) Die Rechtsbeschwerde kann im Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nur wegen solcher Fragen zugelassen werden, die das Verfahren oder die persönlichen Voraussetzungen betreffen (Bestätigung von BGH, Beschl. v. 21.11.2002 - V ZB 40/02, NJW 2003, 1126; v. 4.8.2004 - XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633; v. 18.7.2007 - XII ZA 11/07, NJW-RR 2008, 144).
Normenkette
ZPO §§ 114, 568, 574 Abs. 1 Nr. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Beschluss vom 08.04.2011; Aktenzeichen 3 T 12/11) |
AG Wiesbaden (Beschluss vom 04.03.2011; Aktenzeichen 93 C 6798/10 (31)) |
Nachgehend
Tenor
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Wiesbaden vom 8.4.2011 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der vorbezeichnete Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Wiesbaden aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Die im Rechtsbeschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Auslagen hat die Klägerin zu tragen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: bis 3.500 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Das AG hat die Beklagte mit Versäumnisurteil vom 11.1.2011 verurteilt, die von ihr bewohnte Mietwohnung geräumt an die Klägerin herauszugeben. Die Beklagte hat ihren hiergegen rechtzeitig mit Anwaltsschriftsatz vom 19.1.2011 eingelegten Einspruch damit begründet, dass das Sozialamt innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB die angelaufenen Mietrückstände begleichen werde. Zugleich hat sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Das AG hat den Prozesskostenhilfeantrag mit Beschluss vom 24.1.2011 wegen fehlender Erfolgsaussicht abgewiesen.
Rz. 2
Mit Anwaltsschreiben vom 4.2.2011 hat die Beklagte unter Vorlage eines Schreibens der Landeshauptstadt W., in dem die Bereitschaft zur Übernahme eines zum 24.1.2011 bestehenden Mietrückstands von 697,74 EUR erklärt und die Begleichung dieser Summe zum 10.2.2011 angekündigt worden ist, erneut die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Die Klägerin hat daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dieser Erklärung hat sich die Beklagte unter Anerkennung ihrer Kostentragungspflicht angeschlossen. Mit Beschlüssen vom 4.3.2011 hat das AG der Beklagten gem. § 91a ZPO die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und den erneuten Prozesskostenhilfeantrag der Beklagten mangels Erfolgsaussicht abgewiesen.
Rz. 3
Die gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe gerichtete sofortige Beschwerde der Beklagten hat das LG mit Beschluss des Einzelrichters vom 8.4.2011 unter Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen. Nach Erhalt des ihr nur formlos übermittelten Beschlusses hat die Beklagte mit am 11.5.2011 beim BGH eingegangenem Schriftsatz die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine hiergegen beabsichtigte Rechtsbeschwerde beantragt. Nach der am 19.9.2011 erfolgten Zustellung des Bewilligungsbeschlusses hat sie mit am 26.9.2011 beim BGH eingegangenem Anwaltsschriftsatz Rechtsbeschwerde eingelegt und Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde gestellt. Mit am 12.10.2011 beim BGH eingegangenem Schriftsatz hat sie die Rechtsbeschwerde begründet und zudem Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde beantragt.
II.
Rz. 4
Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung einer Rechtsbeschwerde gegen den angefochtenen Beschluss des LG sind vorliegend erfüllt.
Rz. 5
1. Einer bedürftigen Partei, die ein Rechtsmittel einlegen will, ist grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen schuldloser Fristversäumung (§§ 233 ff. ZPO) zu gewähren, wenn sie bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ein Prozesskostenhilfegesuch eingereicht hat und sie vernünftigerweise nicht mit der Verweigerung der Prozesskostenhilfe wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste (st.Rspr.; vgl. etwa BGH v. 16.11.2010 - VIII ZB 55/10, NJW 2011, 230 Rz. 7 m.w.N.). Dies setzt allerdings voraus, dass dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe eine ordnungsgemäß ausgefüllte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst den erforderlichen Belegen beigefügt worden ist (vgl. BGH v. 16.11.2010 - VIII ZB 55/10, a.a.O., m.w.N.). Diesen Anforderungen ist die Beklagte im Rechtsbeschwerdeverfahren gerecht geworden. Da der Beschluss des LG vom 8.4.2011 dem Beklagtenvertreter nur formlos übermittelt worden ist, ist davon auszugehen, dass dieser von der Entscheidung nicht vor dem 11.4.2011 Kenntnis erlangt hat (§ 189 ZPO), so dass der beim BGH am 11.5.2011 eingegangene Antrag und die diesem beigefügten Unterlagen innerhalb der Monatsfrist des § 575 Abs. 1 ZPO eingereicht worden sind. Die Beklagte war damit ohne Verschulden an der rechtzeitigen Einlegung und Begründung der von ihr beabsichtigten Rechtsbeschwerde gehindert.
Rz. 6
2. Nach Bewilligung der beantragten Prozesskostenhilfe hat die Beklagte fristgerecht (vgl. § 234 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde (§ 575 Abs. 1, 2 ZPO) beantragt. Zudem hat sie die versäumten Rechtshandlungen binnen der in §§ 236 Abs. 2 Satz 2, 234 Abs. 1 ZPO geregelten Fristen nachgeholt.
III.
Rz. 7
Die Rechtsbeschwerde hat auch Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
Rz. 8
1. Das Rechtsmittel ist statthaft. Die Entscheidung des LG, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, ist für den Senat bindend (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Darauf, ob das Beschwerdegericht die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO zutreffend beurteilt hat, kommt es hierbei nicht an (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 21.11.2002 - V ZB 40/02, NJW 2003, 1126 unter II 1). Auch der Umstand, dass die Zulassungsentscheidung durch den Einzelrichter unter Missachtung des Verfahrens nach § 568 Satz 2 ZPO (Übertragung auf die mit drei Mitgliedern besetzte Kammer) erfolgt ist, ändert an der Wirksamkeit der Zulassung nichts (vgl. BGH v. 8.3.2011 - VIII ZB 65/10, WuM 2011, 242 Rz. 3 m.w.N.; v. 21.9.2010 - VIII ZB 73/09, WuM 2011, 61 Rz. 4; v. 27.4.2010 - VIII ZB 81/09, WuM 2010, 385 Rz. 5; BGH, Beschl. v. 14.9.2009 - V ZB 108/09, GE 2009, 1311).
Rz. 9
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der Beschluss des LG unterliegt - wie die Beklagte zu Recht geltend macht - bereits deswegen der Aufhebung, weil er unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergangen ist. Der Einzelrichter hat bei Rechtssachen, in denen er einen Zulassungsgrund bejaht, zwingend das Verfahren dem Kollegium zu übertragen (§ 568 Satz 2 ZPO). Bejaht er mit der Zulassungsentscheidung zugleich die - im Sinne aller in § 574 Abs. 2 ZPO genannten Zulassungsgründe zu verstehende (BGH v. 8.3.2011 - VIII ZB 65/10, a.a.O.; BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, 202; v. 9.3.2006 - V ZB 178/05, FamRZ 2006, 697 unter III [2] a; v. 22.1.2008 - X ZB 27/07, WuM 2008, 159 Rz. 5) - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, ist seine Entscheidung objektiv willkürlich und verstößt gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters. Dieser Verstoß ist vom Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu berücksichtigen (st.Rspr.; BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, a.a.O., S. 202 ff.; BGH v. 27.4.2010 - VIII ZB 81/09, a.a.O., Rz. 6; v. 21.9.2010 - VIII ZB 73/09, a.a.O., Rz. 5; v. 8.3.2011 - VIII ZB 65/10, a.a.O.).
Rz. 10
3. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Beschwerdegericht - Einzelrichter - zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Rechtsbeschwerde im Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nur wegen solcher Fragen zugelassen werden kann, die das Verfahren oder die persönlichen Voraussetzungen betreffen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2002 - V ZB 40/02, a.a.O.; v. 4.8.2004 - XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633 unter II 1, 2; v. 18.7.2007 - XII ZA 11/07, NJW-RR 2008, 144 Rz. 6). Eine Zulassung kommt daher nicht in Betracht, wenn die Bewilligung von Prozesskostenhilfe - wie hier - allein von der Frage abhängt, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -verteidigung Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2002 - V ZB 40/02, a.a.O.). Da das Prozesskostenhilfeverfahren nicht dazu dient, zweifelhafte Rechtsfragen vorab zu entscheiden, ist in den Fällen, in denen die aufgeworfenen Rechtsfragen der höchstrichterlichen Klärung bedürfen, die Erfolgsaussicht der beabsichtigen Rechtsverfolgung oder -verteidigung zu bejahen und der bedürftigen Partei Prozesskostenhilfe zu bewilligen, nicht aber von einer Bewilligung abzusehen und hiergegen die Rechtsbeschwerde zuzulassen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2002 - V ZB 40/02, a.a.O.).
Fundstellen
Haufe-Index 2859782 |
NJW 2012, 8 |
EBE/BGH 2011 |
FamRZ 2012, 215 |
NJW-RR 2012, 125 |
JurBüro 2012, 221 |
ZAP 2012, 202 |
MDR 2012, 114 |
WuM 2012, 46 |
Mitt. 2012, 95 |
PAK 2012, 45 |